Crowdsourcing und das Mobile Web

Spätestens seit Wikipedia ist der Medienbranche klar, dass die Kraft der Masse kaum zu schlagen ist. Das Betriebssystem Linux stellte ein paar Jahre davor in der Softwarebranche einen ähnlichen Versuch auf. Der Gegenspieler hieß Microsoft und es entstand ein Betriebssystem, dass nur durch die freiwillige Mitwirkung von Programmierern weltweit entstand. Das Thema ist also wunderbar geeignet, das Zusammenspiel einer kontrollierten, zentralen Schalt- und Machtstelle mit der unkontrollierbaren Masse zu beobachten. Durch das Mobile Web erhält es im Zusammenspiel mit Social Media zudem eine erhöhte Relevanz, denn

die Aktivierung vieler Teilnehmer ist noch leichter geworden. Und wird auch in der Wirtschaft zu einer entscheidenden Kraft.

Crowdsourcing – die Levée en Masse kann beunruhigen
Crowdsourcing lässt sich gut durch die Übersetzung erklären:
crowd = die Masse  und source = die Quelle meint die Erstellung einer Leistung durch Vernetzung und viele Mitwirkende. Zumeist erfolgt dies unentgeltlich, um dann im Gegenzug das Ergebnis wieder allen kostenlos zukommen zu lassen. Eine schöne Idee und eigentlich nur gut, oder?
Wenn der Masse nicht auch ein unkontrollierbarer Geist innewohnen würde, eine für manche beängstigende, revolutionäre Kraft.
Die Levée en masse, ein in Frankreich durchs Volk zusammengestelltes Revolutionsheer, schlug 1792 in der Schlacht bei Valmy ein professionelles Heer. Es war der Auftakt für ein bis heute andauerndes Kraftspiel zwischen einer Berufsarmee und dem freiwilligen Militärdienst. Goethe wurde als Beobachter zu einer seiner berühmten Aussagen inspiriert:  „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“ Crowdsourcing kann ein bedeutendes Machtinstrument sein und eine Gefahr für die Mächtigen.
Es ist der Verlust an Kontrolle, der es einer starken Institution und den durch sie starken Individuen schwer macht, sich ganz auf Crowdsourcing zu verlassen. Denn Crowdsourcing funktioniert nur dann gut, wenn das Zusammenspiel von Kontrolle und Loslassen funktioniert. Wikipedia braucht ein Raster, eine Prüfung. Die Levée en masse benötigte auch erfahrene Soldaten und einen Heerführer. Und leider ist unsere Geschichte reich an Beispielen, an denen die Führung der Massen zwar gut funktionierte, aber die Richtung falsch war. Dieses Zusammenspiel muss also jeweils neu austariert werden.
Denn einiges spricht dafür, dass Crowdsourcing immer wichtiger wird. Vor allem auf dem heutigen Kriegsschauplatz, dem Kampf um Marktanteile.

Das Ende des Universalgelehrten und der Standardlehrbücher
Das exponentiell ansteigende Wissen macht es faktisch unmöglich für eine Redaktion, so groß sie auch sein mag, das vorhandene Wissen zu bündeln. Sah man in Leibniz noch einen der letzten Universalgelehrten, so beginnt mit dem Zeitalter der Aufklärung auch schon die wissenschaftliche Sammlung des Wissens durch die Enzyklopädisten. Der systematisierte, standardisierte Informationsaustausch in den Wissenschaften hielt Einzug.
Und wir profitieren von dieser gemeinsamen Forschung vieler Menschen. Wer freut sich nicht bei jedem Zahnarztbesuch über die medizinischen Errungenschaften, die Schmerzmittel, und wieder zu Hause über eine Waschmaschine oder die Entdeckung der Welt durch Auto, Zug und Flugzeug.
Es liegt auf der Hand: Nur durch die Mitwirkung vieler lassen sich gute Ergebnisse erzielen.
Durch Social Media und die exponentiell zunehmende Vernetzung der Bevölkerung wachsen die Möglichkeiten von Crowdsourcing. Nicht nur in der Generierung von Wissen, sondern auch im Vertrieb, in der Vermarktung.

Das Mobile Web verleitet zum Mitmachen
Und jetzt das Mobile Web. Nielsen weist schon 2006 nach, dass die wenigsten Teilnehmer im Netz mitmachen. 1% ist wirklich aktiv, 9% sind es manchmal und 90% sind es nie. Diese Daten scheinen für das Web im Allgemeinen auch zu stimmen.
Lediglich beim Mobile Web findet sich eine deutlich höhere Teilnahme. Dort scheinen bis zu 20% der Kunden bereit zu sein, mitzuwirken, so die Einschätzung von Ronny Matthies. Scheinbar aktiviert das Smartphone den Nutzer eher zur Mitwirkung als der PC. Das bestätigt auch der Harvard Professor Jonathan Zittrain bei seiner Betrachtung des Crowdsourcing im Mobilen Web. Wenn man dem Nutzer eine kleine Belohnung verspricht, macht er gerne mit. Zum selben Ergebnis kommen auch neurologische Untersuchungen, nach denen die Aussicht auf Belohnung der größte Antrieb ist für den Menschen. Das Resultat kann dann nebensächlich sein und zu Weihnachten wird es jedem deutlich: Die Vorfreude auf das Fest ist höher als die Enttäuschung beim Auspacken der Geschenke. Warum also nicht gleich zugeben, dass es die Lust an der Belohnung selbst ist, die uns antreibt. Es geht um das Spiel. Und das Gefühl, etwas freiwillig, aus eigenen Stücken zu tun.

Charlotte Block hat das in ihrer Präsentation schön auf den Punkt gebracht: Anreize schaffen und den Spieltrieb fördern. Dann funktioniert Crowdsourcing im Mobile Web.

Noch unklar ist, warum das Smartphone hierfür geeigneter erscheint als der PC. Vermutungen deuten in die Richtung, dass es als lean-forward-Gerät für die Aktion eher geeignet ist als ein lean-back-Gerät. Aber das ändert nichts an der Wirkung, die zu beobachten ist.

Beispielhafte Anwendungen
Sehr gut sichtbar wird das an drei Anwendungen, die den World Summit Award for mobile content gewonnen haben. Anna Gauto hat im mobilen zeitgeist Special mobile und social media ein Englischlernprogramm in Bangladesh, einen Staumelder für staugeplagte Fahrer in Sao Paulo und eine App zur Information für Rollstuhlfahrer vorgestellt. Alle Apps erreichen durch Crowdsourcing eine deutlich höhere Qualität.

Und wer sich wundert, warum wir so häufig auf das mobile zeitgeist Special hinweisen: Es finanziert sich entweder durch den Kauf oder durch die Empfehlung durch einen Tweet. Die Autoren schreiben kostenlos, die Währung sind Verbreitung und Wahrnehmung im Netz. (Unser Beitrag behandelt übrigens das Thema Augmented Reality und Crowdsourcing. Empfehlungen werden gerne angenommen.)

Eine neue Epoche? Zumindest können wir mit Goethe sagen, wir seien dabei gewesen.

Wer weitere Informationen zum Thema Crowdsourcing sucht, dem seien die folgenden Websites/Blogs empfohlen:
http://www.crowdsourcing.org/
http://www.crowdsourcingblog.de/
Eine vom BMBF gefördert Studie:
http://www.zukuenftigetechnologien.de/pdf/Crowdsourcing_Band_92.pdf
Ein Beispiel für ein Portal, das vor allem den kleineren Unternehmen helfen will, ihre Produkte kundengerecht zu entwickeln:
http://unseraller.de/home

Meine Schwerpunkte sind die strategische Entwicklung von Unternehmen, die Gestaltung der passenden Geschäftsmodelle und die Kundenanalyse - das klingt nach trockenem Brot. Aber es kann sehr kreativ, anregend und erfüllend sein. Mit dem Master "Digital Media Manager" in München lehre ich Medienkompetenz als Zusammenspiel von Geschäftsmodellen, Technologiebewertung und medialer Kommunikation. Aus meiner Erfahrung als Produktmanager, Verlagsleiter und Geschäftsführer beim Carl Hanser Verlag und Haufe-Lexware kenne ich das Mediengeschäft und die Herausforderungen durch die Digitalisierung. Mit Partnern entwickle ich Plattformen wie flipintu oder lectory und digitale Lernmethoden mit dem Goethe-Institut und verschiedenen Universitäten. Man muss etwas selber erfahren, um es auch vermitteln zu können. Nicht dass ich ein Fan von Steve Jobs wäre, aber seine legendäre Rede in Stanford ist klug und das Motto passt: Stay hungry. Stay foolish. Das Leben ist zu kurz, um es mit sinnlosen Meetings und Phrasen zu vergeuden.