Crowdwisdom und Crowdcreation

In unserer Serie zum Thema Crowdsourcing und den Einsatz in Verlagen geht dieser Artikel anhand von Beispielen zwei Fragen nach. Wann ist die Masse schlauer als der Einzelne? Und wann ist sie kreativer?

Crowd Wisdom
Das Wissen von Vielen wird im Rahmen von Crowd Wisdom-Maßnahmen beispielsweise in Form inhaltlicher bzw. fachlicher Kommentare zu Autoren-Inhalten genutzt: Auf der Fachbuchplattform Safari Books Online können Autoren Manu­skriptteile vor der Veröffentlichung freischalten. Die Fachcommunity kann Inhalte vorab kommentieren; unverständliche Passagen werden rechtzeitig korrigiert.

Auch De Gruyter Oldenbourg initiiert den Zugang zu und die Beurteilung von Inhalten im Manuskriptstadium, indem der Verlag den klassischen Prozess des Peer Review hin zum Modell „Open Peer Review“ öffnet. Die Crowd unterstützt das fachliche Urteilsvermögen einer Fachredaktion und die Überarbeitung der Autoren. Da bei Fachinhalten sachliche Richtigkeit und Vollständigkeit anstelle von persönlichem Gefallen im Vordergrund stehen, geht diese Form der Unterstützung über die emotionale Beurteilung von Manuskripten (i. S. v. Likes, 5-Sterne-Bewertungen, etc.), die dem Crowd Voting zugeordnet werden, hinaus. Besteht die kommentierende Crowd jedoch, wie sehr häufig im Non-Fiction-Bereich, nicht aus Rezipienten, sondern aus Fachautoren, kann nicht von klassischem Crowdsourcing gesprochen werden, welches sich durch eine Masse von Konsumenten definiert. (Mit Publoris erweitert de Gruyter dies konsequent in Richtung Selfpublishing.)

Im Belletristik-Bereich könnte Crowd Wisdom ebenfalls klassische Lektoratsfunktionen übernehmen. Oetinger34 und das US-Unternehmen Booktrope setzen hier an, indem einzelne User aus der Crowd Selfpublishing-Manuskripte lektorieren. Durch die vorangestellte verlagsinter­ne Auswahl der Teilnehmer und die Bearbeitung der Manuskripte in kleinen Gruppen handelt es sich jedoch weder um einen offenen Aufruf noch um eine kollektive Tätigkeit der Crowd.

Screenshot_Booktrope

Das Beispiel Booktrope: Ein Team besteht aus Lektor, Marketing-Manager, Grafiker und Autor.

 

Ein Best-Practice-Beispiel aus Großbritannien ist die von Random House im Juni 2013 lancierte Plattform Bookmarks, die von der Verlagsgruppe als „Online Consumer Insight Panel“ bezeich­net wird und inzwischen über 3.500 Mitglieder vorweist. Über diese Plattform nutzt der Verlag Crowd Wisdom genreübergreifend für langfristige leserorientierte Innovationsprozesse, indem Konsumenten in Umfragen und Fokusgruppen um ihre Einschätzung zu Genres, dem digitalen Lesen, Coverdesigns und der Entdeckung neuer Bücher gebeten werden. Im Gegenzug erhält die Crowd Zugang zu exklusiven Vorab-Leseproben und die Möglichkeit, die Literaturlandschaft mitzugestalten. Das Beispiel zeigt, wie Buchverlage nicht nur die Beurteilungsgabe, sondern zudem das Wissen um Produkteinsatz und Bedürfnisse der Crowd zur langfristigen Optimie­rung und Weiterentwicklung des Leistungsangebots heranziehen können. Eine Partizipation an der bislang vom Leser ferngehaltenen verlagsinternen Entscheidungsfindung stellt einen Anreiz für die Konsumenten dar, ihre Ressourcen unentgeltlich einzubringen. Insbesondere für Nutzergruppen mit Internet-Affinität ist die Mitsprache und Mitgestaltung inzwischen zu einer Selbstverständlichkeit geworden.

Als erster weltweiter Buchverlag mit über 10.000 Mitarbeitern wird die Plattform von der notwendigen finanziellen und monetären Ressourcenstruktur gestützt: Die verantwortliche Con­sumer-Insight-Managerin Bijelic war zuvor in der Marktforschung für BBC tätig; das „Consumer Insight“- Team von Random House UK analysiert die Ergebnisse der Befragungen und leitet die Erkenntnisse an die internen Teams und Autoren weiter. Die Verlagsgruppe verfolgt mit dem Betreiben der Plattform das Ziel, den direkten Austausch mit dem Kunden und den Fokus auf diesen auszubauen, um die Kenntnis über dessen Konsumgewohnheiten zu verbessern.

Screenshot_Bookmarks

Das Beispiel Bookmarks: Auch hier ist folgender Motivator ein ganz entscheidender: Leser erhalten eine Stimme und bestimmen die Zukunft der Verlagslandschaft mit.

 

Crowd Creation

Wenn die Crowd ihr Wissen nicht nur in Kommentarform bereitstellt, sondern auf der Wissensgrundlage eigene Textbeiträge verfasst, entsteht eine Erweiterung von Crowd Wisdom zu Crowd Creation. Von Crowd Creation kann allerdings, wenn man es ganz genau nehmen mag, ebenfalls nur dann gesprochen werden, wenn die Inhalte bislang von verlagsinternen Redakteuren erstellt wurden und durch die Crowd eine Auslagerung der verlagsinternen Aufgaben stattfindet. Insbesondere in der Belletristik erfolgt die inhaltliche Erstellung jedoch meist verlagsextern, nämlich durch den Autor, der eine dem Verlag vorgelagerte Wertschöpfungskette darstellt. Auch muss die Crowd aus der Gruppe der Konsumenten stammen, damit Crowd Creation entsprechend der wissenschaftlichen Definition vorliegt. Die folgenden Beispiele stellen daher aus wissenschaftlicher Sicht Randbereiche dar, aus Praxissicht sind sie jedoch von wegweisender Bedeutung:
Die Enzyklopädien „Handbücher der Sprach- und Kommunikationswissenschaft“ von De Gruyter entstehen durch Tausende von Autoren, die allerdings nur in Teilen Autoren und Leser zugleich verkörpern.

Wikibooks, eine Initiative von Wikimedia e. V., bringt regelmäßig Fachbücher heraus. So­wohl die Themenfindung und Wissensgenerierung (Crowd Wisdom) als auch der Schreib­prozess (Crowd Creation) werden von der Crowd durchgeführt.

Auch Hanser veröffentlichte ein Buch, dessen Inhalt von der Crowd erstellt wurde: „SEO & Social Media“. Auf einen ersten offenen Aufruf folgte jedoch ein Kurationsprozess, um die veröffentlichungsfähigen Inhalte auszuwählen.

Die crowdbasierte Inhalte-Erstellung findet bislang fast ausschließlich im Non-Fiction-Bereich statt. Als möglicher Grund können persönliche Erfahrungen und Einschläge des Autors genannt werden, die den Inhalt eines Romans prägen und schwerlich aggregiert werden können. Ein beeindruckendes Gegenbeispiel kann allerdings genannt werden: „Zwirbler“ ist der erste Facebook-Roman der Geschichte: Er wurde auf dem sozialen Netzwerk geschrieben, zusammen mit 16.000 Fans, welche die Abenteuer des Protagonisten bestimmten – und aktuell auf Startnext auch zur Finanzierung der gedruckten Version aufgerufen sind, begleitet vom Kladde Buchverlag.

In der Belletristik können sich Crowd Creation-Aktivitäten auch auf die Erstellung eines Cover-Designs beziehen. Diese Möglichkeit nutzt Carlsen in den Fan-Lounges des im August 2013 gegründeten digitalen Labels Instant Books. Bei Instant Books erscheinen monatlich bis zu fünf Selfpublishing-Titel aus den Segmenten Thrill und Romance für Erwachsene. Carlsen unterstützt die Selfpublisher in den Bereichen Redaktion, Covergestaltung und Social-Media-Vermarktung. Leser werden im Rahmen sogenannter „Fan-Missionen“ aufgerufen, ein Foto mit dem Buch des Autors, einen Coverentwurf, eine Rezension oder die Bewerbung einer Autoren-Lesung in ihren sozialen Netzwerken zu streuen. Mit diesen Maßnahmen, die als Anreiz mit Preisausschreiben gekoppelt sind, ermöglicht Carlsen seinen Lesern Nähe zu und Interaktion mit den Autoren. Die Leser werden so in das Marketing und in kreative Prozesse des Verlages eingebunden: Durch den Aufruf zur Erstellung von Coverentwürfen wendet der Verlag Crowd Creation an; mit der Veröffentlichung werbewirksamer Inhalte kommt Crowd Marketing zustande.

Screenshot_Instant Books

Das Beispiel Instant Books: Die Ansprache erfolgt im Namen des Autors, um das Gefühl der Nähe zu diesem zu verstärken.

 

Die Beiträge der Crowd beziehen sich ausschließlich auf das Imprint, sodass die Ver­lagsprozesse der klassischen Programme unberührt bleiben. Für die Konzeption und Betreu­ung der Fan-Missionen bedarf es Gespür für die Aktivitäten und Motivatoren der User-Gemeinde und zeitliche Ressourcen zur Auswahl und Kommunikation mit der Crowd. Die wirtschaftliche Tragfähigkeit dürfte auf der Fan-Bildung (zumal sich auch Serien im Programm befinden) und dem Aufbau von zukünftigen Autorenmarken für das klassische Verlagspro­gramm beruhen. Die Aktivitäten der Crowd können zudem Kenntnisse über deren Bedürfnisse und Online-Verhaltensweisen liefern.

Die Autorin dieses Artikels, Saskia Letz, untersuchte in ihrer Bachelor-Thesis die Auswirkungen und Potenziale von Crowdsourcing auf die Wertschöpfungskette in Buchverlagen. Möchten Sie mehr über diese Thematik erfahren? Auf http://saskialetz.jimdo.com/publikation/ erhalten Sie die Möglichkeit, in die Thesis hineinzulesen. Bei Fragen an die Autorin können Sie auch gerne eine E-Mail an saskialetz@yahoo.de senden.