Mobile Publishing Update: #rpTEN-Special

Zum zehnten Mal fand sie diesen Mai in Berlin statt – die re:publica: Gewachsen vom Bloggertreffen zur Digital-Konferenz, ist sie noch immer einer der innovativsten und wichtigsten Treffpunkte, um am Puls des Netzes zu bleiben, die Trends der digitalen Entwicklung zu verfolgen und über den eigenen Tellerrand zu blicken. Aus diesem Anlass widmen wir unser aktuelles Mobile-Publishing-Update abseits der gewohnten Kategorien den Entdeckungen aus Berlin:

Die Lage: so mittel

So richtig ausgelassen ist die Stimmung trotz des “Klassentreffen-Charakters” der Veranstaltung zu ihrem Jubiläum nicht, zu viele schwergewichtige Themen stehen auf der digitalen Agenda: von der Totalüberwachung im Netz bis zum um sich greifenden Hatespeech, der Überschattung durch die TTIP-Leaks von Greenpeace – da harrt noch einiges der Bearbeitung. Umgekehrt gibt es hier wie jedes Jahr so viel spannendes aus allen Bereichen der Netzwelt zu sehen, dass von digitalem Trübsal-Blasen überhaupt keine Rede sein kann. Ganz im Gegenteil.

 

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Hier aber ein Überblick über die spannendsten Themen für Publisher, Medienhäuser und Content-Anbieter:

 

Augmented Reality, Virtual Reality und 360-Grad-Video

Über ein Dutzend Sessions beschäftigten sich mit allen Aspekten der virtuellen Realität und ihrem Einsatz für Storytelling, Gaming, bildende Künste, Film und Newsmedien. Die Technologien werden alleine durch die Geräte-Generation dieses Jahres aller Voraussicht nach große Sprünge machen und die ersten Medien-Experimente glänzen durch wirklich spektakuläre Bildwelten.

Drei Beobachtungen jedoch zogen sich wie ein roter Faden durch alle Präsentationen:

  • Noch sind die Geräte relativ teuer, relativ schwer und man sieht darin merkwürdig aus bis an die Grenze der sozialen Akzeptanz. Damit besteht immer noch die Chance, dass die Technologien in der “Segway-Sackgasse” landen.
  • Die Visualisierungen sind bereits jetzt beeindruckend bis spektakulär, allerdings bleiben die Talks dazu auf seltsame Weise hinter den Bildern zurück. Es scheint sehr viel schwerer zu sein, über AR/VR zu sprechen, als sie zu zeigen.
  • Die Kreativen in AR/VR müssen ordentlich umlernen in der medialen Inszenierung, der Dramaturgie und dem Einsatz von Stilmitteln. Oder, wie es in einer Session hieß: “VR ist ungefähr so radikal für die bildenden Künste wie die Einführung der Perspektive in der Malerei”.

Die interessantesten Sessions dazu hier in der Übersicht:

 

 

Gut zu diesen #rpTEN-Impressionen passt der ausführliche Hintergrund-Artikel der Wired zu Magic Leap, dem aktuell vielleicht interessantesten Startup im AR/VR-Bereich. Und Jonathan Ravasz zeigt auf Medium sehr anschaulich, wie Gestaltung und Design in virtuellen Realitäten funktionieren.

 

Digitales aus Papier

Für die Drucktechnik-Fachleute unter meinen Bekannten scheint es keine ganz neue Idee zu sein, für mich war die Demo jedoch wirklich spektakulär: Kate Stone zeigt in ihrem Talk “A new feel for print” einen spannenden Weg für “digitale Print-Produkte” ihrer Firma Novalia. Dabei werden mit leitfähigen Tinten, die in normalen Druckverfahren verwendet werden können, quasi Schaltungen und Halbleiter direkt auf Papier und Karton gedruckt. Der Effekt: es entstehen Touch-fähige Flächen auf der Druckseite, die z.B. dazu verwendet werden können, Impulse direkt an Mobile Apps oder Klangerzeuger weiterzugeben – das wäre eine Fundgrube an Ideen für die wirklich organische Verbindung von Print- und Digitalmedien:

 

 

Praktisch eingesetzt wurde die Technologie in Europa z.B. bei diesem Projekt zur Verknüpfung von Print-Broschüre und Mobile-App für Audi:

 

 

Lehren und Lernen im Digitalen

Auch der digitalen Lehre widmeten sich zahlreiche Sessions, das Spektrum reicht hier von Grassroots-Ansätzen in der Fortbildung über Dezentrale Klassenzimmer in Entwicklungsländern bis zu hochgestochenen multimedialen Ansätzen. Leider sind in diesem Thema nur wenige Talks online verfügbar, hier die interessantesten davon:

 

 

Die aktuellen Trends in diesem Bereich haben wir in letzter Zeit ebenfalls zusammengefasst, in Artikeln zu Chancen und Grenzen der digitalen Lehre, zu MOOCs und zu Blended-Learning-Konzepten.

Spannend erscheint uns auch ein Longread der Wired zur Strategie von Pearson Education: der Bildungskonzern versucht nicht nur, immer mehr Bereiche der Lernmedien zu dominieren, sondern auch, die Schulen dazu gleich mit zu übernehmen. Man wird sehen, ob diese Strategie aufgeht…

Und dass sich Investitionen in Fortbildung gerade jetzt lohnen, zeigt ein aktueller Artikel des Wallstreet Journal: trotz Automatisierung und Bots in der Arbeitswelt werden die Jobs für Wissensarbeiter stetig mehr.

 

Fanfiction und Selfpublishing

Für mich einer der Höhepunkte der re:publica war der Talk von Laurie Penny: Anhand der Storywelten der Popkultur wie Star Trek oder Harry Potter zeigt sie, wie sich die parallel dazu entwickelte Fanfiction zur emanzipatorischen Kraft entwickelt hat. Denn abseits vom “Monomythos” der klassischen Heldenreise schreiben hier die Fans ihre eigene Geschichte abseits des klassischen Literatur-Kanons (“a lot of dead white men – and Jane Austen”), egal wie schräg, queer oder pubertär sie auch sein mag.

Und der Vielfältigkeit des modernen Lebens kommt das auf jeden Fall zu Gute – jedenfalls scheint hier eine ganze Generation von schreibenden Jugendlichen ihren ureigenen Ausdruck von Diversity zu finden, wie es Laurie in ihrem Vortragstitel “change the story, change the world” formuliert hat – im besten denkbaren Sinne. Der Eindruck scheint nicht nur bei mir hängen geblieben zu sein, denn neben dem schon sehr netten Artikel der Wired hat sogar die FAZ Laurie Penny einen sehr ausführlichen und ungewöhnlich wohlwollenden Bericht gegönnt.

 

Von Dauerkritikern und Wutbürgern: Hass im Netz

Ebenfalls ein brandaktuelles Thema in Berlin war die aufgeladene Stimmung im Netz, die sich in den öffentlichen Kontroversen der letzten Monate Bahn gebrochen hat. Gleich mehrere exzellente Sessions widmeten sich diesem Komplex:

Ingrid Brodnig legt in ihrer Session “Warum Lügengeschichten so gut funktionieren” die Mechanismen von Hass-Kommentaren und Shitstorms offen und zeigt, wie schnell der Weg vom hastig getippten Post über den Hoax bis hin zur veritablen Staatskrise gehen kann:

 

 

Kübra Gümüşay dagegen nimmt “Organisierte Liebe” zu ihrem Motto: in ihrer leidenschaftlichen Rede, die viel Echo auf der re:publica gefunden hat, fordert sie dazu auf “die Kommentarspalten zu fluten” und die positive Emphase zu teilen, denn: “der Hass ist bereits organisiert”:

 

 

Leider noch nicht online verfügbar ist der brilliante Talk von Carolin Emcke, die die “Raster des Hasses” im Netz ebenso treffend wie rhetorisch exzellent seziert – immerhin aber im Bericht von T3N nachzulesen. Ganz aktuell zum Thema passt ebenfalls der lesenswerte Longread “Das Internet als Kritikmaschine” von Christoph Kappes.

Und auch wenn uns dieses Thema in den Verlagen und Medienhäusern zunächst nur mittelbar betreffen mag: es ist immer wieder wichtig, sich beim Publishing im Netz deutlich klar zu machen, wie polarisiert und aufgeladen die Kommunikation um uns herum aktuell ist – und dass diese Rahmenbedingungen es öfter nötig machen werden, eine klare Haltung einzunehmen.

 

Digitale Cargo-Kulte

Gunther Dueck widmet sich mit stets beißendem Humor den “digitalen Cargo-Kulten”: Ähnlich wie beim historischen Vorbild geschieht es auch in der digitalen Wirtschaft immer wieder, dass bei Trends und Methoden die Kausalitäten völlig missverstanden und in der Folge Buzzwords unreflektiert, aber quasi kultisch verehrt durch die Organisationen getrieben werden. Vom QR-Code über Social Media Marketing, von agilen Methoden bis Design Thinking – die Liste der Mißverständnisse ist lang, und jeder vom mittleren Management aufwärts wird davon sein Liedchen singen können…

 

 

Wir wünschen wie immer aufschlußreiche Lektüre bzw. unterhaltsames Nachverfolgen des digitalen Treibens in Berlin!

 

 

Veröffentlicht von

www.dpc-consulting.de

XML- und Digital-Publishing-Professional mit Leib & Seele, seit Berufseinstieg in verschiedensten Projekten rund um Content-Management und Datenbank-basiertes Publizieren unterwegs. Seit 2012 selbständig als Berater und Trainer für digitales Publizieren.