Virtual Reality und 360-Grad-Video: Trends von der i4c

Letzte Woche fand in München an der Hochschule für Fernsehen und Film die i4c-Konferenz statt, eines der interessantesten Events für Augmented Reality, Virtual Reality und 360-Grad-Video im deutschsprachigen Raum. Neben vielen aktuellen Fallbeispielen wurden auch Technologietrends und Erfahrungsberichte  von Filmemachern, Journalisten und Kreativen vorgestellt: Discoverability, Distribution und die jüngsten “lessons learned” waren mit im Programm. Hier der Überblick über die zentralen Trends und Erkenntnisse für die Gestaltung innovativer visueller Medien in 2017:

Ein Wort vorab: Wie üblich bei visuellem, interaktiven Content ist es relativ schwierig, darüber zu schreiben und zu sprechen – während die Anwendungsbeispiele in der Regel wirklich spektakulär sind. Die Vorträge blieben immer ein Stück weit hinter den Visuals zurück – was aber den Wert der Fallbeispiele und Erkenntnisse in keiner Weise schmälert (die Verlinkung auf die Beispiele ist in diesem Artikel deshalb besonders wichtig).

 

Journalistische Aufbereitung und Dokumentation:  Süddeutsche Zeitung und Westdeutscher Rundfunk

Die Süddeutsche Zeitung aus München widmet sich bereits seit zwei Jahren mit einem kleinen Team dem journalistischen Einsatz von Virtual Reality und 360-Grad-Video: Sowohl über eine eigene Landingpage, über ein Bundle-Angebot mit Google Cardboard, als auch über eine Mobile-App werden die VR-Reportagen zur Verfügung gestellt. Die Themen reichen dabei von einer eindrucksvollen Dokumentation über Seenotrettung von Flüchtlingen im Mittelmeer über eine Live-Fahrt im Eiskanal bis zu einer Simulation der vielen, momentan im Bau befindlichen, unterirdischen Bahnhöfe Münchens. Die journalistische Aufbereitung folgt dabei noch relativ klassischen Wegen – jedoch wird die filmische 360-Grad-Perspektive gezielt dafür eingesetzt, das inhaltliche Potenzial dieser VR-Visualisierung zu nutzen: Das Einnehmen der Perspektive eines Protagonisten, das Sichtbarmachen von zunächst verschlossenem und unsichtbaren Räumen (z.B. für Archäologie oder Stadtarchitektur) – oder, wie im Fall der Flüchtlings-Dokumentation, den direkten, unmittelbaren Blick der Beteiligten auf eine krisenhafte Situation.

 

“Meer der Verzweifelten”, eine ebenso spektakuläre wie erschütternde VR-Dokumentation über die Flüchtlingskrise auf dem Mittelmeer, die durch die 360-Grad-Perspektive eine eindringliche Intensität erhält. (Quelle: http://gfx.sueddeutsche.de/pages/vr/, Copyright: sueddeutsche.de)

 

Der WDR wählte einen ähnlichen Ansatz für seine VR-Dokumentation “Inside Auschwitz”: In dem sensibel gedrehten Film über das Konzentrationslager werden Augenzeugen-Interviews zusammen mit dokumentarischen Sequenzen und Drohnen-Luftaufnahmen kombiniert und erhalten durch die ungewöhnlichen Perspektiven eine dramatische Intensität und Nähe, wie man sie sonst kaum jemals erlebt – und die sich selbst auf einem flachen Bildschirm vermittelt. Der inzwischen preisgekrönte Dokumentarfilm ist für mich ein Paradebeispiel dafür, wie das empathische Potenzial des 360-Grad-Filmens genutzt werden kann.

 

Zwischen Fundraising, NGO-Arbeit und Aktionskunst: Emblematic Group und Submarine Channel

Schon lange im Geschäft ist die Emblematic Group: Als einer der Pioniere auf dem Gebiet immersiver Erfahrungen arbeitet die Agentur oft für NGOs und Non-Profit-Organisationen, mit VR-Experimenten wie dem “Project Syria” versuchen sie, diese Organisationen mit ihren Möglichkeiten der medialen Aufbereitung beim Fundraising zu unterstützen. Und auch sonst werden kaum kontroverse Themen gescheut: von der Dokumentation des Gefängnis-Alltags von Häftlingen in Einzelhaft bis zu aktionistischen Filmen über Abtreibungskliniken in den USA. Mit Erfolg: Wie Golem schon vor 2 Jahren in einem Artikel über Emblematic schrieb, bringen die Dokus den Zuschauer so nah an die Themen, “dass es schon fast wehtut”.  Und der Ansatz, diese Wirkung für das Fundraising zu nutzen, wirkt: Offenbar steigt die Spendenbereitschaft für Kampagnen deutlich an, wenn dabei VR-Erfahrungen eingesetzt werden. Ein Film über die Arbeit vom Emblematic gibt einen ersten Einblick:

 

 

Auch die holländischen VR-Filmer von Submarine Channel widmen sich gerne politischen Inhalten: Mit “The Last Hijack” ist eine VR-Reportage über Piraterie in Somalia entstanden, mit “Refugee Republic” eine sensible Dokumentation über ein Flüchtlingslager im Irak. Gleichzeitig verfolgt das Kollektiv aber auch Experimente mit VR-Trickfilmen, Comic/Graphic-Novel-Umsetzungen und ihrem jüngsten Kunstfilm-Projekt “Ashes to Ashes” – der Youtube– und Vimeo-Channel von Submarine Channel ist auf jeden Fall einen Besuch wert. Um das Problem der Distribution und der bisher weitgehend fehlenden Marktplätze für VR-Experiences zu lösen, haben sie zudem zusammen mit Screendiver einen eigenen Web-Content-Hub für digitale und interaktive Comic-Umsetzungen geschaffen.

 

Ashes to Ashes VR (Teaser) from Submarine Channel on Vimeo.

 

Sport-Vermarktung und Event-Content: Der Ansatz von Red Bull Media

Einen ganz anderen Charakter hat dagegen der Ansatz von Red Bull Media: Mit ihren Inhalten aus Event- und Extremsport-Vermarktung hat der österreichische Konzern in Rekordzeit eine VR-Medien-Strategie entwickelt und bereits ein erstes, recht spektakuläres Content-Portfolio realisiert. Erfahrungen wie Klippenspringen, Hubschrauber-Flüge, Ski-Abfahrten und Extrem-Klettern sind hier die Themen – und der produzierte Content gliedert sich verblüffend organisch in die Strategie von Red Bull als globaler Medienmarke ein. Dazu verwendet Red Bull beispielsweise ein Red-Bull-Sixpack, das gleichzeitig als gebrandete Cardboard-Brille für die VR-Experiences verwendbar ist, und stellt die 360-Grad-Filme in seinem eigenen Content-Hub zur Verfügung – inklusive exzessiver Zweitverwertung des Content über alle Medienpartner. Und obwohl einer der Publikumslieblinge des Tages hier sicher der Flug auf dem Rücken eines Adlers war, aufgenommen mit einem eigens dafür entwickelten “Adler-VR-Kamera-Rucksack”, ist eines der spektakulärsten Videos der Abstieg eines Bergsteiger-Teams in einen aktiven Vulkan, gefilmt in 360-Grad (hier auch auf YouTube zu sehen).

 

 

Content-Gestaltung: Filmische Ästhetik in 360 Grad und Publikums-Rezeption

Egal aber welches Thema bespielt wurde und aus welcher Richtung die Fallbeispiele kamen – über den Tag wurde sehr deutlich, dass auch die Gestaltung und mediale Aufbereitung von VR-Erfahrungen ihren ganz eigenen Regeln folgt.

VR-Content und 360-Grad-Video funktioniert dabei am besten,

  • wenn physische Präsenz und die visuelle Ich-Perspektive für den Inhalt einen besonderen Reiz ausmachen,
  • wenn persönliches Nacherleben einer Situation eine besondere Bedeutung für das Thema hat und
  • wenn Räumlichkeit und 360-Grad-Blick für einen Perspektiven-Wechsel gegenüber dem “flachen” Film sorgt.

Inhaltlich und für das Drehbuch sowie für die visuelle Gestaltung sind dazu notwendig:

  • sich aktiv Gedanken über die Zuschauer-Rolle und Perspektive zu machen und diese in den Mittelpunkt des Skriptes und der Inhalte zu stellen;
  • Räumlichkeit, Tiefe und filmische Perspektiven bewusst einzusetzen und
  • den Erlebnis-Charakter der filmischen Eindrücke in den Dienst der Botschaft zu stellen

Werden alle diese Rahmenbedingungen optimal genutzt, können so Erfahrungen entstehen, die gegenüber dem klassischem Film einen wirklich immersiven Sog erzeugen und für eine Intensität sorgen können, die je nach Thema durchaus auch verstörend für den Zuschauer sein kann. Spannend ist dabei zusätzlich, dass aktuell die meisten VR-Erfahrungen nicht aus kompletten, eigens erstellten virtuellen Welten bestehen – der größte Teil des Content besteht dabei aus Realfilm, der mit mehreren Kameras gedreht und dann per Software zusammengeschnitten wird. Der Zuschauer kommt damit in den meisten Fällen in den Genuss einer gleichsam “intensivierten Realität”. Das hat oft den ganz pragmatischen Grund, dass komplett virtuelle Welten aus Gaming-Engines wie Unity zwar technisch möglich, in der Regel aber für die meisten Projekte schlicht zu teuer sind.

 

Vertrieb und Distribution: Ohne Content-Hub geht nichts

Trotz atemberaubender visueller Darstellungen darf gleichzeitig nicht verschwiegen werden, dass das VR-Genre hier durchaus noch vor einer großen Herausforderung bezüglich seiner kommerziellen Verwertbarkeit steht: Zwar werden hier große Umsätze erwartet, aktuell hält sich der Kundenansturm aber noch in relativ engen Grenzen. Dies ist auf der einen Seite ein Hardware-Problem: VR-Brillen werden zwar stetig besser und billiger, aber dennoch ist der Großteil der möglichen Konsumenten noch mit Browser und Smartphone unterwegs. Und so schnell wird sich diese Situation auch kaum ändern.

Die meisten Anbieter wählen dafür die durchaus kluge Strategie, den Kundenzugang so niedrigschwellig wie möglich zu gestalten: In der Regel sind die VR-Filme keine voll-interaktiven Apps, sondern 360-Grad-Videos, die sich auch schlicht über den Video-Player im Browser, auf Plattformen wie Youtube und über Geräte wie Smartphones und Tablets ansehen lassen. Je besser die Hardware des Kunden dann ist – etwa wenn eine Google Cardboard oder gar eine dedizierte VR-Brille vorhanden ist – umso besser wird damit auch die Nutzer-Erfahrung, zwingend notwendig ist dies aber nicht.

Gleichzeitig wird im VR/AR-Ökosystem aber immer deutlicher, dass auch für diesen Content die zentralen Anlaufstellen für den Kunden, die Marktplätze und Content-Hubs fehlen. Es gibt zwar gar nicht so wenige gute bis sehr gute AR/VR-Projekte: aber diese sind bisher über eine extrem fragmentierte Landschaft von Hardware- und Content-Plattformen verstreut – und vor allem nicht an einer zentralen Stelle such- bzw. kaufbar. Klug ist es aktuell daher, eine bekannte Standard-Plattform wie Youtube oder Facebook für den Content-Zugang zu verwenden (hier sind 360-Grad-Videos inzwischen standardmäßig nutzbar) – auch wenn es nur für den kostenlosen Teaser eines ansonsten kommerziell verwerteten Produktes ist.

Unternehmen wie die SZ und Red Bull Media versuchen sich dagegen zusammen mit ihrem Inhalte-Angebot auch am Aufbau jeweils eigener Content-Hubs – oder wie bspw. auch Submarine Channel dabei bewusst mit einem Nischen-Ansatz für sehr spezielle Content-Typen wie digitale Comics. Für eine breite kommerzielle Verwertbarkeit wird dies aller Wahrscheinlichkeit nach entscheidend sein. Denn vieles spricht dafür, dass auch für visuellen Content das von Ben Thompson entwickelte Konzept der “Smiling curve” wirken wird: Die Wertschöpfung in der digitalen Welt verschiebt sich immer mehr zu den Plattformen, die für das Entdecken, die Verfügbarkeit und den Zugang zu relevantem Content genutzt werden. Wer den Content-Hub kontrolliert, wird das Geld verdienen.

 

Die “smiling curve” in der Content-Wirtschaft: Wer den Content-Hub kontrolliert, verdient das Geld. (Quelle/Copyright: stratechery.com)

 

Fazit

Je geringer die Schwellen zur VR-Nutzung für den Endkunden sind, umso schneller ist von einer allgemeinen Verbreitung auszugehen. Zum Teil werden diese Schwellen über den Content-Zugang gesenkt, zum Teil über die Technologie-Zyklen. Umso interessanter werden deshalb mit Sicherheit Initiativen wie WebVR für einen VR-Zugang über den ganz normalen Web-Browser oder auch das Projekt Carmel für einen dedizierten VR-Browser werden.

Das Erzählen in 360-Grad-Welten wird sich innerhalb der nächsten Jahren neben den klassischen Medien etabliert haben – Virtual Reality und 360-Grad-Video werden mit großer Wahrscheinlichkeit damit zu einem Trend werden, zu dem Verlage, Medienhäuser und Online-Anbieter Position beziehen müssen. Wer sich noch tiefer mit den Business-Perspektiven beschäftigten will, dem empfehlen wir als weitere Lektüre die exzellente Analyse “The first decade of augmented reality” von Benedict Evans, die diese Woche zum Thema erschienen ist. Natürlich muss man sich aus Verlagsicht immer gut überlegen, ob es nachhaltig ist, auf visuellen Content zu setzen, wenn der Geschäftsschwerpunkt hauptsächlich in textbasierten Medien liegt. Hat ein Medienunternehmen aber auch visuell geeignete Inhalte im Portfolio, sollte dieses Feld nicht alleine den Branchenteilnehmern aus Film, Fernsehen und Gaming überlassen werden.

 

Veröffentlicht von

www.dpc-consulting.de

XML- und Digital-Publishing-Professional mit Leib & Seele, seit Berufseinstieg in verschiedensten Projekten rund um Content-Management und Datenbank-basiertes Publizieren unterwegs. Seit 2012 selbständig als Berater und Trainer für digitales Publizieren.