KI und RAG - neue Geschäftsmodelle für Verlage?
14. Oktober 2025 – veröffentlicht von: smart digits
KI verändert den Zugang zu Wissen. Verlage verdienen am Zugang zu Wissen.
Bücher, Zeitschriften und Zeitungen sind die klassischen Wissensspeicher, Film und Radio kamen später hinzu. Sie vermitteln auf effiziente Art und Weise Informationen, bieten Anregungen, Unterhaltung und Wissen. Die Kunden erwarten von den Absendern geprüfte und qualitativ passende Inhalte. Verlage verdienen damit Geld, dass sie den Prozess zwischen Autor und Kunde organisieren.
Soweit eine kurze Geschichte des Verlagswesens.
Was aber, wenn diese Produktformen nicht mehr nötig sind in Zeiten von RAG-Modellen?
Was, wenn der Kunde durch KI nur noch schnell und gezielt die richtige Antwort sucht - und die bisherigen Wissensspeicher nur noch im Hintergrund als Quellen braucht?
Die Lizensierung der eigenen Inhalte an KI-Firmen steckt grad in den Kinderschuhen, macht aber schon die Runde. Ist sie der Grabgesang oder ein Aufbruch?
Im Folgenden der Versuch einer Einordnung und was das heißt für die Zukunft von Verlagen.
Anwendungsfälle für RAG-Modelle sprießen zur Zeit aus dem Boden. Fachverlage wie Haufe, Beck oder Otto Schmidt bieten Zugänge zu ihren Datenbanken, die SZ bietet Antworten zur Europawahl, Schulbuchverlage wie Cornelsen, Klett oder Westermann unterstützen die Lehrkräfte bei ihrer Unterrichtsvorbereitung oder Wissenschaftsverlage wie Springer nature assistieren ihren AutorInnen beim Schreiben.
Doch wie beim Selfpublishing schon sichtbar, bleibt diese Technologie nicht allein den Verlagen vorbehalten. Der Literaturwissenschaftler Martin Puchner bietet z.B. über ChatGPT Dialoge mit bekannten Persönlichkeiten der Kulturgeschichte an.
Die Frage stellt sich dann, ob man überhaupt noch das Buch braucht und lesen muss.
Was heißt RAG? Versuch einer Definition
RAG-Modelle sind aktuell groß in Mode: Hier werden die Erkenntnisse und Leistungen von LLMs (large language models) genutzt und zugleich werden spezielle Datenbanken zusätzlich abgefragt, um die Qualität der Ergebnisse zu erhöhen.
Technisch besteht ein RAG-System (retrieval augmented generation) aus zwei Hauptkomponenten:
1. Ein Retrieval-Modul sucht in bestimmten, klar definierten Datenbeständen nach relevanten Informationen. Diese Daten können Fachbücher sein, persönliche Daten, Wissensdatenbanken etc.
Die Qualität der Antwort soll dadurch verbessert werden, dass ein bestimmtes Fachwissen genutzt wird, ohne dass diese Daten allgemein im Netz zugänglich sind. Halluzinationen können dadurch reduziert werden.
2. Parallel wird ein LLM verwendet, ein sogenanntes generatives KI-Modell, um präzise und verständliche Texte zu erstellen.
3. Im Zusammenspiel (augmented) sollen dadurch die Halluzinationen, Falschaussagen und Bias reduziert und die Qualität der Antworten verbessert werden.
(Siehe hierzu z.B. die verständliche Darstellung des Fraunhofer Instituts an dieser Stelle.)
Man kann das vergleichen mit einem Quizz.
Man nutzt den Publikumsjoker und fragt das Publikum nach einer Antwort. Aufgrund des statistischen Mittelwerts generiert die KI eine Antwort (LLM).
Parallel zieht man auch noch den Expertenjoker und die KI prüft diese Antwort durch eine Abfrage bei einer Datenbank mit kuratiertem Spezialwissen.
Zusammen ergibt das statistisch gesehen ein besseres Ergebnis.
(Spoiler: Das beendet natürlich nicht Halluzinationen und andere falsche Antworten, wie z.B. Steve Nouri hier deutlich macht. Und natürlich ist das nicht das Ende der Fahnenstange: Mit MCP (model context protocol) werden auch Produktivitätstools angestoßen, um Handlungen ausführen zu lassen. Im sogenannten Context Engineering werden RAG-Modelle auch in Zukunft wohl eine große Rolle spielen.)
Die zentrale Frage wird sein, wie gut sich Verlage die neue Technologie zu eigen machen können.
Die üblichen verdächtigen Anwendungsfälle für Verlage liegen auf der Hand und werden auch schon an vielen Stellen getestet:
- Kundenanfragen werden aktuell und schnell beantwortet.
- Der Zugang zu Fachwissen wird erleichtert.
- Die Ergebnisse von Anfragen werden verbessert, weil sie präzise und quellenbasiert sind.
- Verschiedene Quellen können miteinander verglichen werden und der Kunde kann sie nachvollziehen.
- Antworten können personalisiert werden.
- Prozesse können effizienter gestaltet werden.
- Die Lösungen können auch für das interne Wissensmanagement genutzt werden.
- ...
Der Phantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Dabei ist einerseits eine große Abhängigkeit der großen Anbieter zu beachten, d.h. von den Unternehmen, die LLMs entwickeln und die Interaktion mit den Inhalten neu steuern. Von Google über Microsoft, Apple und Meta sowie den Anbietern aus China und den wenigen aus Europa werden die Sprachmodelle weiterentwickelt und in die eigenen Ökosysteme integriert.
Offen ist dabei, ob der Zugriff auf Inhalte aus diesen Ökosystemen heraus Verlage künftig zur Bedeutungslosigkeit degradieren: Muss ich denn dann noch auf die Seiten der Verlage, wenn ich dasselbe auch schon über OpenAI erhalte?
Und andererseits wird es darum gehen, wie gut Verlage selbst die Zugänge zu ihrem Content neu denken, organisieren und die Schnittstellen zu ihren Kunden gestalten.
Offen ist dabei, wo und wie die Kunden mit dem begrenzten Angebot von Verlagen zufrieden sein werden. Das wird sich je nach Thema und Markt unterschiedlich darstellen: Lehrer an Schulen wollen z.B. nicht nur die Inhalte eines Verlags, Studierende werden sich nicht nur auf eine Quelle verlassen dürfen. Und zugleich besteht bei beiden der Wunsch, die Inhalte schnell und zuverlässig ohne lange Abwägung zu finden.
Was sind die Auswirkungen auf Verlage?
Für Verlage lassen sich verschiedene Szenarien durchdenken, vom Ende der Verlage wie wir sie kennen bis zur Renaissance. Und alle Gedankenspiele können sich auf Erfahrungswerte berufen, sind nicht ganz aus der Luft gegriffen. Die letzten Jahrzehnte der Digitalisierung haben gezeigt, dass
- bestimmte Bereiche bedeutungslos wurden wie z.B. die Kartographie oder Lexika (oder wann haben Sie das letzte Mal einen Falk-Plan in den Händen gehalten oder ein Langenscheidt-Lexikon?), andere
- in Kombination von Print und Onlineangeboten zur Blüte oder zumindest zu stabilen Erträgen führen können, für die z.B. Fachverlage wie Haufe, Wissenschaftsverlage wie Springer nature oder Zeitschriften wie die Zeit stehen, oder
- relativ stabil geblieben sind, meist begleitet von Schwankungen nach unten oder oben und leichten Veränderungen im Angebot. Dafür stehen z.B. literarische Werke, Kinderbücher, Kochbücher oder das Segment "Young adult".
In der Folge werden deshalb diese drei Szenarien durchgespielt, als Anregung für die Überlegungen zur eigenen Zukunft.
Szenario: Es bleibt wie es ist, mit einer leichten Verschiebung der Schwerpunkte.
Szenario: Es werden sich hybride Modelle entwickeln, die die neue Technologie aufgreifen, integrieren und neue Angebote entwickeln.
Szenario: Die neue Technologie macht bestehende Angebote überflüssig und es ist nur eine Frage der Zeit, wann das erfolgt.
Szenario 1 - es bleibt wie es ist, mit einer leichten Verschiebung der Schwerpunkte
Die bisherigen Medien werden nicht verschwinden. So wie sich das Buch, die Wochenzeitschrift, das Radio und andere Medien als resistent erwiesen haben in den letzten Jahren, so werden sie auch in Zukunft ihren Platz behaupten.
Das setzt voraus, dass die bisherigen Medien auch nach wie vor eine Funktion im System erfüllen in der Landschaft der Angebote.
Die folgenden Annahmen müssten dann gelten:
1. Es gibt nach wie vor das Bedürfnis, Inhalte in einem fest umgrenzten, vertrauenswürdigen Rahmen zu erhalten.
2. Die klassischen Medien entsprechen dem Bedürfnis nach entschleunigter Aufnahmen von Informationen im Vergleich zur schnelleren und effizienteren Aufnahme über Abfragen.
3. Die persönliche Auseinandersetzung mit den klassischen Medien passt nach wie vor zum Rhythmus vieler Menschen bei der Informationsbeschaffung.
Dann bietet RAG einen Zugang mehr zu den Werken. So wie der Kindle-Reader eine schnelle Suche über Personen, Orte oder Zeiten früh möglich gemacht hat, so lassen sich auch in Zukunft RAG-Modelle mit den klassischen Medien verknüpfen und diese behalten ihren Wert. Im Dialog mit einzelnen Büchern, Reihen, Werkausgaben von AutorInnen erschließen sich neue Welten, aber die Basis sind die bisherigen Angebote. Und die werden dadurch nicht verschwinden, sondern können auch profitieren von einem einfacheren Zugang. Das oben genannte Beispiel von Puchner lässt sich in dieser Kategorie einordnen.
Anleihen kann man hier bei Wolfgang Riepl nehmen, dessen "Gesetz" gerne zitiert wird, wenn man an disruptiven Veränderungen zweifelt.
Das "Rieplsche Gesetz" geisterte vor allem nach der Einführung der Smartphones und Tablets durch die Präsentationen vieler Kongresse. Wolfgang Riepl hatte im Jahr 1915 (!) seine Dissertation mit dem herrlichen Titel "Das Nachrichtenwesen des Altertums. Mit besonderer Rücksicht auf die Römer" mit einem "Grundgesetz" versehen. Das wird gerne als Beleg dafür gesehen, dass die bestehenden Medien nach wie vor gebraucht werden. Das ist schon für die im Buch zitierten "berittenen Eilboten mit Relais" nicht mehr gültig und bei "Erkundungen im Salon, Boudoir und Serail" sicher heute etwas anders zu verstehen.
Liest man den Text genau, so kann man auch heute noch die Aussage unterstützen, dass wie in systemischen Ansätzen "andere Aufgaben und Verwertungsgebiete" gesucht werden müssen für bestehende Angebote. Die Funktion eines Mediums ändert sich innerhalb eines Systems durch das Hinzufügen eines neuen Mediums. Oder um es am konkreten Beispiel zu verdeutlichen: Kochbücher werden in Zeiten von Internetportalen und Apps nicht mehr der zentrale Speicherort von Rezepten gesehen, sondern erfüllen für Käufer vor allem andere Funktionen: als wertvolles und schönes Geschenk, als entschleunigtes Verweilen und ruhiges Suchen, als Stöbern und Medium, das Appetit machen soll.
"Andererseits ergibt sich gewissermaßen als ein Grundgesetz der Entwicklung des Nachrichtenwesens, daß die einfachsten Mittel, Formen und Methoden, wenn sie nur einmal eingebürgert und brauchbar befunden worden sind, auch von den vollkommensten und höchst entwickelten niemals wieder gänzlich und dauernd verdrängt und außer Gebrauch gesetzt werden können, sondern sich neben diesen erhalten, nur daß sie genötigt werden, andere Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen."
Checkliste 1 - oder welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit meine Angebote als Verlag noch gebraucht werden?
Meine Kunden vertrauen mir mehr als anderen Anbietern.
Und das bedeutet, dass ich nach wie vor eine genügend große Anzahl an Käufern habe, um wirtschaftlich zu arbeiten. Zwar gibt es wie in der Medizin neben den "klassischen" Ärzten und Krankenhäusern auch andere Heilsbringer, aber die Schwerpunkte im System sind klar. Bücher, Zeitschriften oder Datenbanken und Software meines Verlags werden gebraucht.Meine Kunden suchen die Entschleunigung durch meine Angebote.
Es mag zutreffen, dass sich die Welt zwischen San Franzisko und Shanghai schneller dreht als je zuvor, aber meine Kunde wollen ihre Ruhe - oder zumindest biete ich Ihnen eine Auszeit, einen Urlaub von der ewigen Überflutung. Da meine Angebote einen Anfang und ein Ende haben, geben sie einen erholsamen Rahmen vor.Meine Kunden wollen sich ausführlich mit meinen Inhalten befassen.
Und das bedeutet, dass die Interaktion mit meinen Angeboten und den AutorInnen so viel anregender und sinnstiftend ist im Vergleich.
Wenn diese Punkte auf Ihr Unternehmen zutreffen, dann haben Sie Stärken, die Sie ausbauen und halten sollten.
Szenario 2 - es werden sich hybride Modelle entwickeln, die die neue Technologie aufgreifen, integrieren und neue Angebote entwickeln.
Die bisherigen Medien werden je nach Bereich mehr oder weniger deutlich zurückgehen und nur durch die Kombination mit den neuen Angeboten überleben.
Das setzt voraus, dass RAG-Modelle ihren Markt finden und alleine und mit den bisherigen Angeboten zusammen einen Mehrwert darstellen.
Die folgenden Annahmen müssten dann gelten:
1. RAG-Modelle sind wertschöpfend und geben eine Antwort auf Probleme der Kunden.
2. Die Kombination von bisherigen Angeboten mit RAG-Modellen bieten die Vorteile zweier Welten: eingeführte, vertrauenserweckende Marken + neue Technologie.
3. Die Akzeptanz der neuen Angebote in einer breiten Schicht bietet ökonomisch sinnvolles Wirtschaften.
Die Entwicklung ist zunächst ähnlich der in Szenario 1, aber im Erlösmodell gibt es deutliche Verschiebungen vom alten Angebot hin zum Neuen. Diese kann mal schneller, mal langsamer gehen, so wie Loseblattwerke über viele Jahre immer noch die Cash-Cows vieler Fachverlage waren, während neue Kunden vorwiegend über hybride oder rein digitale Angebote gewonnen wurden.
Die klassischen Zugänge werden in ihrer Bedeutung abnehmen und die Kunden werden den Content über noch mehr Zugänge erreichen. Die organisatorische Aufgabe für Verlage wird dadurch nicht einfacher.
Checkliste 2 - oder welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit meine Angebote künftig in hybriden Formen gebraucht werden?
Meine Kunden wählen verschiedene Wege zum Content.
Und das heißt, dass sie die neuen Technologien ausprobieren wollen und neugierig sind, aber auch kritisch. Sie werden den Zugang wählen, der ihr Problem am besten löst.Meine Kunden vertrauen mir und erhalten von mir exklusive Inhalte.
Das Pfund in der Waagschale heißt "exklusiv" und sollte so lange wie möglich gepflegt und gehegt werden, um auch jeden noch so kleinen Vorsprung zu halten.Meine Kunden wollen sich eine gewissen Unabhängigkeit bewahren.
Solange ich einen zuverlässigen Dienst biete und mit dem "human in the loop" auch einen kritischen Blick auf KI verspreche, kann ich mir eine Kundengruppe bewahren, für die verlässliche Informationen relevant sind und die es gewohnt ist, zu prüfen. Dazu gehören in der Regel Juristen, Ärzte, Ingenieure und andere, die ein erhöhtes Risiko tragen bei Fehlern. "In der Regel", denn wie immer ist die Gruppe der kritischen Denker eine Minderheit.
Szenario 3: Die neue Technologie macht bestehende Angebote überflüssig und es ist nur eine Frage der Zeit, wann das erfolgt.
Die bisherigen Medien werden disruptiv ersetzt und spielen keine Rolle mehr. RAG ersetzt den Zugang zu Content über die bisherigen Wege.
Das setzt voraus, dass RAG-Modelle die bisherigen Lösungen ersetzen können, weil sie eine ausreichende Antwort liefern für die Kunden. Und die Technologie wird nicht nur schnell weiterentwickelt, sondern findet auch in Bezug auf die Usability Akzeptanz beim Kunden.
Die folgenden Annahmen müssen dann gelten:
1. RAG-Modelle sind nur ein Übergang und die großen KI-Anbieter werden schnell alle verfügbaren Informationen aufgenommen haben.
2. Die Gefahren der Halluzination und minderwertiger Antworten werden in Kauf genommen bzw. durch den schnellen und unkomplizierten Zugang wettgemacht.
3. Das Vertrauen in die großen KI-Anbieter ist ausreichend groß.
In diesem Szenario erübrigen sich Checklisten. Es geht darum, das Schiff so lange wie möglich flott zu halten und in andere Bereiche zu investieren. Vielleicht ergeben sich noch Chancen als "last man standing", als nette Erinnerung an vergangene Zeiten mit Angeboten für Nostalgiker. Aber man braucht einen langen Atem.