Die Digitalisierung hält uns auf Trab. Immer schneller, höher, weiter. Das Problem: Genetisch hat sich so viel nicht verändert in den letzten Jahrtausenden. Wir kommen an unsere menschlichen Grenzen – und werden einiges den Computern überlassen, weil sie das besser können (Stichwort KI – aber das ist ein anderes Thema). Sichtbar wird dies an einer Reihe von Phänomenen, die wir im Umgang mit den Medien beobachten können.
Weniger ist mehr – oder warum Longreads funktionieren
In der NYT hat Christopher Mele kürzlich eine Lanze für die Auszeit von Nachrichten gebrochen und dafür auch eine ganze Reihe kluger Befürworter und gute Argumente gefunden. Der Hintergrund ist klar: Wir werden überschwemmt von Informationen und bräuchten IBMs Watson als Chip in unserem Hirn, um auch nur annähernd dessen Ruhe bewahren zu können. Unser Hirn selektiert ja auch aus den ca. 11 Mio Sinneseindrücken pro Sekunde einige wenige (ca. 40) aus, die es uns bewußt macht, während der Rest unbewußt abgelegt wird. Bei Nachrichten müssen wir unser Bewußtsein aber anschalten. Und einen Strom an neuen Nachrichten können wir nicht bewältigen. Wir brauchen eine Auszeit.
Denn Nachrichten sind zwar die Voraussetzungen für Entscheidungen. Aber erst wenn sie in einen größeren Zusammenhang gestellt werden, helfen sie uns bei der Steuerung unseres Lebens. Und die psychologischen Erkenntnisse zeigen deutlich, dass mehr Entscheidungsmöglichkeiten noch lange nicht zu besseren Entscheidungen führen. Würde unser Gehirn auf jeden Sinneseindruck reagieren, wäre es nicht nur hoffnungslos überlastet – es würde unsere Überlebenschancen drastisch verringern.
Wir können die Zukunft aufgrund der Beurteilung der Vergangenheit anders gestalten als andere Lebewesen. Diesen Wettbewerbsvorteil haben wir aber nur, wenn wir eben nicht auf jeden Tweet eines US-Präsidenten reagieren – sondern diese Beurteilung mit besonnenem Geist treffen. Nicht umsonst hat Dirk von Gehlen auf die politischen Ereignisse zu Anfang des Jahres mit einem Appell zur “Social-Media-Gelassenheit” reagiert.
Pidq und Blendle
Piqd ist ein kostenloser Empfehlungsdienst für sogenannte “longreads” (ich kann piqd wärmstens empfehlen, darüber kam auch der Hinweis auf den Artikel in der NYT). Sogenannte piqer, oft selber Journalisten, erläutern in wenigen Sätzen, warum sie einen bestimmten Beitrag im Netz für lesenswert halten und verlinken auch gleich auf diesen. Die Qualität der Kuratierung ist hoch und zeigt sich schon in der Qualifikation der piquer: Sie müssen mit wenigen Worten die Essenz eines Beitrags erfassen und schnell erläutern, warum er gut ist. Das ist viel mehr als eine gute Überschrift und lang nicht so ermüdend wie eine sachliche Zusammenfassung. Denn es geht darum, warum man von einem Thema betroffen ist, warum es einen persönlich berührt.
Neben blendle und anderen Diensten ist es ein Beispiel für die Bedeutung von längeren Texten. Weil sie uns eben mehr vor Augen halten als News und dadurch unsere Überlebenschancen erhöhen. Die kürzlich veröffentlichte Übersicht der Bestseller bei blendle weist in dieselbe Richtung: Vertiefende Informationen leben länger, wenn sie denn gut geschrieben, recherchiert und aufbereitet werden. Auch hier sind eine griffige Überschrift (“Kluge Leute trinken keine Cola” ist der Longseller) und gutes, kontinuierliches Marketing nötig.
Zeitungen und Longreads
In dem Zusammenhang ist auch zu verstehen, warum die NYT seit Trumps Wahlsieg mehr Abonnenten gewinnen konnte als im gesamten Jahr 2015: Sie steht für vertiefende, recherchierte Informationen, jenseits von “alternative facts” und Tweets. Und auch das Publikum versteht diesen Trend. Der Guardian, im UK anerkannter Vertreter dieses Zeitungs-Verständnisses und bekannt für exzellente Longreads, hat über das Jahr 2016 mit verschiedenen Kampagnen im A/B-Testing-Verfahren versucht, seine Digital-Abo-Zahlen deutlich zu erhöhen. Spannendes Ergebnis: Nach dem Test von ca. 30 Aufforderungstexten zum Abschluss eines Abos (von der Betonung der langen Geschichte bis zum Fokus auf investigative Stories) wurde deutlich, dass die Konversionsraten deutlich nach oben gehen, wenn die Unabhängigkeit des Mediums und die Kosten der Produktion von Qualitätsjournalismus betont werden. Ein schönes Signal.
The New European ist ein weiteres Beispiel für den Erfolg von Longreads, der sich nicht an die Unterscheidung von Print und digital hält, sondern die geeignete Publikationsform für seine Leser sucht. Gerade in Nischen bieten sich Chancen, sowohl für Zeitschriften wie auch Bücher. Hierzulande nehmen wir wahr, dass sich die Wochenmagazine und Sonntagszeitungen in einer Langzeitbetrachtung gar nicht so schlecht dastehen – schon die Stellung der ZEIT in der deutschen Medienlandschaft macht das deutlich. Und die Süddeutsche Zeitung hat dem Longread mit dem “Langstrecke”-Projekt 2015 sogar ein eigenes, neues Format gewidmet.
Fazit
Goldfisch bleibt Goldfisch und Mensch bleibt Mensch. Der eine schwimmt langsam im Kreis und der andere ist rastlos suchend wie eh und je, mal kürzer, mal länger. Und dabei braucht er zum Überleben auch vertiefende Informationen. Und er braucht den einzigartigen Moment, die Bestätigung, dass er nicht im digitalen Fluss fortgeschwemmt wird. In diesem Zusammenhang kann man auch die Retrobewegungen bewerten: Kassetten sind hier ebenso zu finden wie Vinylplatten, Polaroid erlebt ein Revival, Moleskine baut auf die scheinbar vergessenen Notizbücher und in den digitalen Hochburgen werden Tafeln und analoge Schreibgeräte gesucht. Das Totgesagte findet also auch in der digitalen Welt seine Nische – denn nicht nur die lange Form, auch die Tendenz zur Entschleunigung hat seine ganz eigenen Zielgruppen.
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