Innovations-Strategien im Publishing: Verlage als CMS-Anbieter

Die Digitalisierungs-Projekte und Web-Auftritte deutscher Verlage dürften jetzt alle volljährig sein – um das Jahr 2000 starteten die meisten davon. Die dazu notwendigen Content-Management-Systeme sind mittlerweile zum festen Bestandteil der Systemlandschaft und IT-Infrastruktur im Publishing geworden. Aber CMS ist nicht gleich CMS: Von leichtgewichtigen Web-CMS-Applikationen bis zu hochintegrierten XML-Systemen für alle Inhalte und Publikationskanäle eines Verlags ist die Landschaft der Lösungen und Systemanbieter mittlerweile kaum noch überschaubar. In den letzten Jahren gibt es daneben aber einen bemerkenswerten Trend: Einzelne Verlagshäuser werden selbst zu CMS-Anbietern und bringen ihre zunächst für den eigenen Bedarf entwickelten Lösungen auch als Standard-System auf den Markt. Ein Blick auf spannende Fallbeispiele für modernes Verlags-Content-Management:

 

O’Reilly: Atlas

Eines der frühesten Beispiele für Verlags-Eigenentwicklungen, die später auch als Produkte angeboten wurden, ist das Atlas-CMS des amerikanischen IT-Verlagshauses O’Reilly. Atlas wurde in den Jahren 2012/2013 unter der Leitung von Sanders Kleinfeld (damals Director of Publishing Technology bei O’Reilly) zunächst als internes Produktionssystem entwickelt und dann nach Test- und Beta-Phase unter Open-Source-Lizenz öffentlich verfügbar gemacht. Das CMS wurde auf der Digital Book World 2015 von O’Reilly präsentiert und steht seitdem allen interessierten Verlagen zur Nutzung offen.

Atlas verfolgt den Ansatz medienneutraler Datenhaltung mit Multi-Channel-Ausgabe für einen Buchverlag, der Inhalte sowohl in Print wie auch als eBook und für verschiedene andere digitale Kanäle nutzen will. Das CMS setzt dazu auf native Speicherung der Inhalte in HTML5 und verwendet dafür den auf Buchpublikationen ausgelegten und ebenfalls von O’Reilly entwickelten Standard HTMLBook. Autoren schreiben ihre Inhalte in einem webbasierten Editor und können dabei auch bereits Multimedia-Inhalte und interaktive Elemente integrieren. Zusätzliche spezielle Editoren, wie z.B. zur Einbindung von Code-Beispielen oder Übungsaufgaben oder auch für komplexe Browser-Visualisierungen wie dynamische SVG-Inhalte sind ebenfalls bereits enthalten.

Content-Editor bzw. CMS ermöglichen die Kollaboration zwischen verschiedenen Autoren, Redakteuren und Lektorat; das System setzt für Versionierung und Datenhaltung auf GitHub. Die Generierung der Druck-PDFs erfolgt über Print-CSS, eine automatisierte EPUB-Konvertierung ist mit im System integriert. Die integrierten Multimedia-Inhalte und interaktiven Elemente werden von O’Reilly unter anderem für Online-Kurse und Trainingsmaterialien wie die O’Reilly Oriole Online Training-Reihe verwendet – hier findet sich ein anschauliches Beispiel für den mit Atlas möglichen Medienmix.

 

O’Reilly Atlas: Digital-First-Publishing für Fachbuch-Verlage in Open-Source-Lizenz. (Quelle/Copyright: atlas.oreilly.com)

 

Burda: Thunder

Im Bereich Zeitschriften-Publishing ist Hubert Burda Media Anfang 2016 mit einer Eigenentwicklung an die Öffentlichkeit gegangen: Mit Thunder wird eine für das eigene Unternehmen entwickelte Anpassung und Zusammenstellung verschiedener Module als Anpassungen/Plugins für das in der Web-Entwicklung weit verbreitete Drupal-CMS unter Open-Source-Lizenz auch für andere Verlage zur Verfügung gestellt.

Obwohl Thunder aufgrund des hier verwendeten Drupal als Basis-CMS keine komplette Neuentwicklung darstellt, sind die darin integrierten Funktionen dennoch nicht weniger nützlich: Von einem Multimedia-fähigen Content-Editor über MAM-Funktionen und Kollaborations-/Planungs-Funktionen für Newsroom-Teams bis zur Integration von Single-Sign-On-Funktionen gehen die Features des CMS-Pakets. Auch branchenspezifische Anforderungen wie IVW-Zählpixel sind integriert. Und dass das System sowohl im Backend als auch für den Kunden durchgehend responsiv gestaltet und mobil benutzbar ist, sollte in den heutigen Zeiten ohnehin selbstverständlich sein.

Burda Thunder: Eine Drupal-Distribution, die speziell auf die Bedürfnisse von Zeitschriften-Content ausgelegt ist. (Quelle/Copyright: thunder.org)

Thunder ist dabei weniger auf ein eigenständiges Erlösmodell für Burda ausgelegt – stattdessen sollen nach dem Open-Source-Gedanken Grundlagen-Entwicklungen mit anderen Branchenteilnehmern geteilt und so Entwicklungskosten reduziert werden. Dazu sind mit dem Modell Kooperationen mit anderen Unternehmen wie Acquia, Facebook, Microsoft, nexx.tv oder riddle.com verbunden. Ein spannendes Projekt wurde in diesem Zusammenhang sogar bereits in der Buchbranche realisiert: Das von Droemer Knaur 2017 gelaunchte Gesundheits- und Lifestyle-Portal Einfach ganz leben wurde mit Thunder als CMS entwickelt.

 

Washington Post: Arc

Das wahrscheinlich ambitionierteste CMS-Projekt stammt von der Washington Post. Seit ihrem Erwerb durch Jeff Bezos im Jahr 2013 hat sich das Zeitungshaus auf konsequenten Modernisierungskurs begeben und ist damit nicht nur kommerziell außerordentlich erfolgreich, sondern gilt mittlerweile auch als eines der innovativsten Medienhäuser weltweit. Ein Bestandteil der Innovationsstrategie ist dabei die Entwicklung eines eigenen Portfolios an Publishing-Tools, das unter dem Namen Arc nicht nur intern verwendet, sondern auch als kommerzielles Produkt vertrieben wird.

Arc ist naturgemäß entlang des Anforderungsprofils eines News-Anbieters entwickelt, der seine Inhalte sowohl im Print, als auch über verschiedenste Online- und Social-Media-Kanäle publiziert und dafür auf ein flexibles Toolset für modernes Content-Publishing angewiesen ist. Neben einem News-orientierten Online-Editor und einem auf Newsroom-Betrieb ausgelegten Content-Management-System bietet Arc eine ganze Palette von Werkzeugen, die quasi alle Bedürfnisse eines modernen Medienhauses abbilden:

  • Integrierte Kollaboration, Planung und Budgetierung in Content-Editor und CMS
  • Media Asset Management für Audio-, Video- und Bild-Inhalte
  • Layout- und Storytelling-Tools mit integrierter Simulation responsiver Darstellung
  • Analytics- und Dashboard-Ansichten für die Nutzung des Content
  • Semantische Indexierung, Verschlagwortung und Anreicherung der Inhalte für SEO, Related Content und personalisierte Auslieferung von Artikeln
  • Tools für A/B-Testing und Varianten-Ausspielung
  • Integration der Content-Editoren in das Metered-Paywall-System

Die Arc-Produkte sind dabei hochgradig modular aufgebaut, ermöglichen aber die integrierte Nutzung aller Tools in einer gemeinsamen Oberfläche bzw. in einem durchgehenden redaktionellen Prozess.

Arc Publishing: Neben klassischen CMS-Funktionen ist hier ein ganzes Tool-Ökosystem für modernes News-Publishing realisiert. (Quelle/Copyright: www.arcpublishing.com)

Im Konzept von Arc ist die Handschrift des Amazon-CEO Jeff Bezos deutlich zu spüren: Die Philosophie, Tools für das eigene Geschäft sowohl hochgradig modular, als auch auf Vernetzung und Wiederverwendbarkeit auszulegen, ist direkt von den Entwicklungsteams bei Amazon übernommen. Gleichermaßen werden die Werkzeuge bereits so entwickelt, dass sie nicht nur im eigenen Unternehmen verwendet, sondern auch als paketiertes Service-Modell für andere Unternehmen zur Verfügung gestellt werden können – wie im Fall der Amazon Web Services. Die Washington Post ist in diesem Bereich mittlerweile sehr erfolgreich und hat für Arc bereits eine größere Zahl durchaus namhafter Medienhäuser als Kunden gewinnen können. Die Zeitung schickt sich damit an, ein neuer System-Anbieter für News-orientiertes Content Management zu werden.

 

Verlage als CMS-Anbieter – ein Erfolgsmodell?

Modelle wie die vorgestellten CMS-Projekte sind im Verlags- und Medien-Umfeld nicht grundlegend neu: Bereits seit Jahrzehnten verfolgen deutsche Zeitungshäuser die Strategie, zwar mit ihren Produkten im Markt zu konkurrieren, aber in Bereichen wie Druck und Logistik auch über das Bundesgebiet hinweg zu kooperieren. Dass aber nun auch die Ergebnisse von CMS-Entwicklungen als Produkte angeboten werden, geht über diese Art der Kooperation noch ein ganzes Stück hinaus.

Die drei hier vorgestellten Beispiele für CMS-Applikationen sind aufgrund ihrer Zielsetzung und ihres Geschäftsmodells zwar sehr unterschiedlich – eines haben sie aber gemeinsam: Hier wird Kooperation von Medienanbietern zum Zweck der Automatisierung und Standardisierung auf eine neue Weise praktiziert. Diese Entwicklung kann man uneingeschränkt begrüßen. Denn Standard-Anwendungen für die Medienbranche gibt es ohnehin viel zu wenig, und wenn schon der Aufwand für Eigenentwicklungen betrieben wird – dann macht es umso mehr Sinn, diesen Aufwand auf irgendeine Weise zu teilen. Ob damit immer auch ein eigenes Geschäftsmodell verbunden sein muss, sei dahingestellt. Auf jeden Fall ist aber bei der Entwicklung von Basis-Systemen Kooperation der bessere Weg als Konfrontation. Denn am Ende liegt nicht in der Technologie-Hoheit der Marktvorteil – sondern im Einsatz der Technologien für kundenorientierte Produkte.

Veröffentlicht von

www.dpc-consulting.de

XML- und Digital-Publishing-Professional mit Leib & Seele, seit Berufseinstieg in verschiedensten Projekten rund um Content-Management und Datenbank-basiertes Publizieren unterwegs. Seit 2012 selbständig als Berater und Trainer für digitales Publizieren.