TikTok (3) — eine Blaupause für erfolgreiche Apps?

Welche Erfolgsfaktoren lassen sich am Beispiel von TikTok erkennen? 

„Alles ruft – ja schreit – nach unserer Aufmerksamkeit.“ (Kreutzer, 2020: 4)  Die Digitalisierung hat zur Folge, dass wir die vielfältigen und zahlreichen Informationen in einer hohen Geschwindigkeit verarbeiten müssen. Die Aufmerksamkeit ist das Nadelöhr.
Im Vergleich zu anderen Medien wie Bild und Text zieht das Video mit den bewegten Bildern die Aufmerksamkeit der Menschen schneller auf sich. Im Zusammenhang mit einer Analyse von LinkedIn spricht Kreutzer (ebd.: 4) davon, dass „auch im beruflichen Umfeld Video vor Foto und Foto vor Text eine höhere ‚Vergütung‘ in den Social-Media-Währungen Likes, Applaus, Weiterleitung etc. erhält.“
Das Kurzvideo weist bei einer Länge von meist 15 Sekunden mehrere Vorteile auf. In nur 15 Sekunden können Nutzer Unterhaltung sowie Wissen aus einem Kurzvideo beziehen – und dies direkt von ihrem Smartphone aus. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis scheint dabei optimal zu sein (vgl. ebd.: 5).

Douyin/TikTok ist nicht die erste App für Kurzvideos. Auf dem chinesischen Markt war lange Kuaishou (快手)  seit November 2014 die führende Plattform für Kurzvideos und global gesehen gibt es ja eine Reihe von Konkurrenten. Warum ist TikTok für viele junge Menschen attraktiv und mehr als nur ein Werkzeug zur Videobearbeitung? Der Produktmanager von Douyin, Xiaowei Wang, fordert 2017: „[…] Es sollte ein auf die chinesische Jugend ausgerichtetes Produkt für die Community des Musik-Kurzvideos geben. Junge Leute spielen gerne. Sie können sich damit leicht ausdrücken und sich zeigen. Das Produkt muss interessant sein“ (eigene Übersetzung). Die Rolle der Musik wird hierbei betont, da Musik laut Wang (vgl. ebd.) die Selbstdarstellung und die Verbindungen zwischen den Menschen fördern kann. Mit Popmusik ist das Kurzvideo nicht nur ein Werkzeug zur Videobearbeitung, sondern trägt als ein Meme zur Verbreitung einer Kultur bei.

Mackenzie und Nicols (2020) verweisen auf die subversive Kraft von TikTok. „Rather, we are concerned with examples of the ‚D.I.Y.‘ character and rebellious spirit of TikTok’s content.“ (ebd.: 289) In der Musikdatenbank von TikTok können verschiedene Clips alter Lieder oder Filme aufgefunden werden. Damit bietet TikTok den Nutzern die Möglichkeit, mit Kreativität die „conventional ideas, myths and values“ (ebd.) erneut, meistens lustig, zu interpretieren. Zuschauer der Kurzvideos sind in den meisten Fällen auch mit dem Kontext und dem Liedtext der Musik vertraut. Die Kreativität und das Talent der Creators rücken deswegen in den Mittelpunkt und es wird ein Spielraum für simple und oft bizarre Interpretationen geschaffen. Kreativität zeigt sich hier im Bezug zu Vorlagen und die Einbettung in die eigene Lebenswirklichkeit.

Außerdem ermöglicht TikTok mit der Lipsync-Funktion auch musikalischen Amateuren einen professionellen Anstrich (vgl. ebd.: 292 ff., siehe Clip 1 & 2) . „Everyone is joining in on an activity, and producing their own interpretation, in some instances merely the creation of their own version distinguishable from others primarily because they are doing it.“ (ebd: 292) TikTok ist eine Plattform für Experimente, die Räume schafft für „anyone wishing to inhabit a counterculture“ (ebd.: 297).

@perri.kiely

This ones too jokes! 🤣 @majesticonline came through with the remix 😎🔥 DC: me #rasputin #fyp

♬ Rasputin – Majestic & Boney M.
Clip 1: Tanz mit dem beliebten Musik „Rasputin“ auf TikTok von @perri.kiely
[Abgerufen: 09.03.2021]
@marianne_rb

Rasputin version 2 dc: @perri.kiely #fyp

♬ Rasputin – Majestic & Boney M.
Clip 2: Tanz mit dem beliebten Musik „Rasputin“ auf TikTok von @marianne_rb
[Abgerufen: 09.03.2021]

Mit TikTok kann man endlich Luftgitarre spielen, Balletstar werden oder Sängerin, Kinoheld oder Talkmaster. TikTok liefert die perfekte Umgebung für ein Karaoke mit digitaler Reichweite.

Die Dauer der Videos auf TikTok liegt meistens bei 15 Sekunden. Eine eher traditionelle, narrative Struktur von Videos mit drei Teilen (Einführung, Höhepunkt, Auflösung), steht hier wie bei der Cannes-Rolle und besonderen Werbevideos eher die Pointe im Mittelpunkt. „TikTok videos are thrilling with a beginning and surprise end; a rise and a fall.“ (Bresnick, 2019: 7) TikTok ist dadurch eher einer Runde zu vergleichen, in der sich alle Beteiligten Witze erzählen.

Die Zufälligkeit bei der Auswahl der nächsten Videos verstärkt diesen Effekt. Man weiß nie, welcher Witz als nächster erzählt wird: „[…]and several swipes can bring up an astounding variety of content that can be described as sincere, ironic, cringy, wholesome, offensive, makebelieve, authentic, ridiculous, confusing and everything in between.“ (Anderson, 2020: 8, siehe auch Bresnick, 2019; Zeh, 2020, Weil, 2019) Und die Witze können natürlich nacherzählt, garniert, verbessert werden. Nachdem Creators Clips oder Challenges veröffentlicht haben, wissen sie nicht, ob diese Clips z.B. durch ‚Riff-On‘ nachgemacht werden oder ‚viral‘ gehen können.

Der Algorithmus für das Zuspielen von Videos unterscheidet sich zudem von denen bei Facebook und Instagram (vgl. Zeh, 2020: 12). Die Follower spielen eine geringere Rolle als die Vorlieben der Zuschauer. Selbst wenn ein Creator wenige Follower hat, kann sein Videos schnell in die Feeds anderer Benutzer gelangen und einem großen Publikum zugespielt werden (vgl. Anderson, 2020: 8). TikTok wird damit unberechenbarer und das erwartet man auch von einem Witz (vgl. Weil, 2019).

Und wenn ein Clip langweilig erscheint, ist der nächste mit einem Wischen schon da. Facebook folgt mit seinem “thumbs up” noch der Geste im Kolosseum im alten Rom und ist dem großen Bildschirm und dem Click auf ein Symbol verhaftet. TikTok ist schon in der mobilen Welt entstanden und seinen Gesten bei der Nutzung von Smartphones. Das Wischen ist nicht anstrengend, leicht auszuführen und aktiviert doch Befriedigung bei einer Ablehnung von Clips. Der Nutzer ist ihnen nicht ausgeliefert, sondern kann sich mit einer Geste befreien, sich wie bei Tinder von ihnen verabschieden. In der realen Welt wären solche Gesten meist verletzend, auf keinen Fall “politically correct”. Man würde auf die Frage, wie gefällt Dir mein Video meistens versuchen, diplomatisch und höflich zu antworten. Hier muss man das nicht. Das befreit, befriedigt. Die kathartische Wirkung solcher Gesten ist ein weiterer Puzzlestein im Blick auf TikTok.

Die Lokalisierung von Content und Tools

Die kulturellen Unterschiede machen natürlich Anpassungen nötig. Auch wenn es eine Binsenweisheit ist: “so viel Standardisierung wie möglich, so viel Spezialisierung wie nötig“ (Koch, 2016: 81) ist und bleibt ein Gebot.

Die grundlegenden Tools wie etwa die Soundtracks, Filter, Sticker, Effekte und Hashtags müssen sich an die kulturellen und sozialen Merkmale der Zielländer und Zielgruppen anpassen.  

„Die Unterschiede liegen vor allem in dem, [wenn es um die TikTok-Nutzung geht,] was das Publikum in unterschiedlichen Ländern aktuell bewegt. Wir hören unseren Usern sehr genau zu und versuchen, auf deren Bedürfnisse einzugehen.“ (Heinrich, 2019, zitiert nach Unckrich, 2019) TikTok hatte bereits in den anderen Ländern mit der Anpassung an die lokalen Marktbedürfnisse Erfolg. Z. B. werden die Soundtracks „für jeden Markt sowohl geschmacklich als auch sprachlich angepasst“ (Wun, 2019).

In Japan bietet TikTok Soundtracks an, die speziell zum Geschmack der Nutzer passen, und hat lokalisierte Hashtag-Challenges entworfen. Die japanischen Nutzer sind vergleichsweise „schüchterner und weniger körperlich ausdrucksstark“ (ebd.). Tanzbewegungen in den Beispielvideos sind deswegen vereinfacht, um die Partizipation zu fördern. Außerdem hat TikTok in Japan mehr Gruppen-Hashtag-Challenges lanciert, sodass das Gemeinschaftserlebnis im Vordergrund steht. Die feinen Filter und vielfältigen Make-Up-Effekte auf dem japanischen Markt kommen dem Kundenbedürfnis entgegen, in den Videos “niedlich” aufzutreten.  

Im jeweiligen Zielland werden lokale Teams aufgebaut, die die Märkte mit ihren Eigenheiten kennen. In Berlin hat ByteDance im Winter 2018 die erste Niederlassung in Deutschland eröffnet. Das lokale Team beschäftigt sich mit maßgeschneiderten Inhalten. In Deutschland wurde z.B. im September 2020 der Hashtag #oktoberfest in Form des Bannerbilds auf der ‚Entdecken‘ Seite auf TikTok angezeigt. Unter der Caption „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!“  können die Nutzer trotz der Corona-Regeln den Oktoberfest online auf TikTok feiern (siehe Clip 3). Unter #CreatorsForDiversity werden Fördergelder ausgelobt und die Kunstszene wird direkt angesprochen, hier weitere Inhalte zu liefern. Es ist eine Win-Win-Situation in der Pandemie, in der die einen Fördergelder erhalten und die anderen Content und eine höhere Reichweite in einer relevanten Zielgruppe.
Das TikTok-Team in Singapur überwacht „posts on other platforms, like Facebook and Instagram, to spot upcoming trends, taking into account the local context“ (Moh, 2019). In Australien bekommen die ausgewählten Creators vorher Informationen über einige bevorstehende Hashtag-Challenges und Trends aus dem TikTok-Team und dem zuständigen Manager (vgl. Mackenzie & Nichols, 2020: 287). Konkrete Vorschläge werden ebenfalls gegeben, sodass die Creators mit Hinweisen auf erfolgreiche Narrative Clips erstellen können und weitergehend von TikTok empfohlen werden. 

@fcbayernbasketball

Wenn Basketballer schuhplatteln…😅 Habt ihr das drauf? 🕺🏾 #Oktoberfest #Wiesn #FCBB #schuhplattler #basketball

♬ Originalton – FC Bayern Basketball
Clip 3: FC BayernBasketballer wird Schuhplattler auf TikTok [Abgerufen: 08.03.2021]

„The medium is the message.“

Diese Sentenz von Marshall McLuhan zeigt sich hier besonders deutlich.
TikTok als ein neues Medium, das innerhalb weniger Jahre zahlreiche Nutzer angelockt hat und eine immer wichtigere Rolle im Alltagsleben einiger Nutzer spielt, ist selbst die Botschaft. Diese Botschaft vereint Inhalt und Technologie.

Kann man Erfolgsfaktoren von TikTok erkennen, als Zusammenfassung der drei Artikel hier sozusagen?

  • TikTok ist eine Produktionsumgebung und ein soziales Netzwerk zugleich, ein Film- und Musikstudio inklusive Bühnenauftritt vor großem Publikum. Das gab es noch nie.
  • Musik ist Trumpf. Und man muss nicht musikalisch sein, um mitmachen zu können. Rhythm is it und kombiniert selbst erbärmlichen Unsinn mit professioneller Gestaltung.
  • Die Narrative weisen Parallelen zu Witzen und kreativen Werbespots auf. Die Pointe und eine schnell zu erfassende Botschaft sind zentral.
  • Die Funktionalitäten werden rasch und kontinuierlich entwickelt und erweitert. Sie unterstützen die oben genannten Möglichkeiten. Und sie ermöglichen die Verbreitung von Vorlagen, Vorbildern und Beispielen unter anderen Vorzeichen, das Kopieren des Erfolgreichen mit eigenem Anstrich.
  • Influencer und Profis werden gefördert. Sie verleihen der Plattform Qualität. Und jeder kann sich dieser nachahmend bedienen.
  • Die Lokalisierung in Bezug auf den Content und die Steuerung von Influencern ist wichtig.
  • Jeder kann vom Tellerwäscher zum Millionär werden, jeder kann potenziell plötzlich vor ein großes Publikum treten. Der Algorithmus reagiert schnell auf Trends und neue Hashtags eröffnen plötzlich neue Welten.

„TikTok though is the towering stick falling far and fast, not caring to wait to evolve through a wriggling, cumbersome social phase, but instead asking: Why not just start showing people things and see what they do about it? Why not just ask people to start making things and see what happens? If engagement is how success is measured, why not just design the app where taking up time is the entire point? There’s no rule, in apps or elsewhere, against engagement for engagement’s sake. Let the creature grow tall and fall upon us all.“ (Herrman, 2019)

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Als ein Student der Medienkommunikation habe ich Interesse an neuen Medien, die unseren Lebensstil beeinflussen. Früher undenkbare Möglichkeiten haben sich hierdurch eröffnet, da man eine Vielfalt an Gedanken äußern und den eigenen Charakter zeigen kann. Wenn Medien als eine Brücke zwischen uns und der Welt betrachtet werden, kommen wir immer wieder auf die Fragen zurück: Was lässt sich von uns wahrnehmen? Was wollen wir vermitteln? Durch die Kommunikation mit anderen gelangen wir zur Reflexion und einem tieferen Verständnis unserer Identität. Es ist ähnlich wie mit dem übrigen Umgang mit Medien in dieser Medienboom-Ära.