Start-ups aus Indien: das Beispiel Juggernaut

Nicht nur in Deutschland sprießen jedes Jahr neue Startups in der Verlags- und Medienbranche aus dem Boden. Sie versuchen, aus dem Schwung der Digitalisierung ihr ganz eigenes Modell für ein unwiderstehliches Angebot für den Kunden zu entwickeln. Und viele scheitern: am Geschäftsmodell, an der Kundenakzeptanz und manchmal schlicht an sich selbst. Auf unserer letzten Seminarreise nach Indien haben wir uns mit Juggernaut ein Modell für digitales Lesen angesehen, das uns besonders instruktiv erscheint für das Thema Produktentwicklung in Märkten mit großen Herausforderungen. Natürlich ist das hier entwickelte Modell nicht direkt auf Europa übertragbar – die Anpassung des Angebots an den Kundenbedarf und die besonderen Marktbedingungen sind aber sicher auch für Business Developer hierzulande interessant:

Das Marktumfeld

Wie wir auf unseren letzten Reisen bereits live erleben durften, gehört Indien mit zu den “emerging markets”, mit denen weltweit besondere Hoffnungen verbunden werden. Mit seiner im Vergleich zu Europa riesigen Bevölkerung sind die potenziellen Käuferschichten entsprechend groß, die Mentalität ist sehr offen gegenüber neuen Technologien und den mobilen Ökosystemen. Dementsprechend herrscht unter den Anbietern von Digitalmedien Goldgräberstimmung, sowohl bei lokalen Publishern, als auch bei internationalen Playern wie Amazon, die trotz einiger Schwierigkeiten im Markt nach Indien expandieren.

Dennoch darf man nicht verhehlen, dass der indische Markt erhebliche Herausforderungen in sich birgt: Für Verlage existiert bisher keinerlei landesweite Distributions-Infrastruktur für physische Produkte. Der Markt ist extrem preissensibel und sowohl analog wie digital ist unsanktionierte Piraterie an der Tagesordnung. Zwar ist das Smartphone allgegenwärtiger als irgendwo in Europa, aber die Regel sind Billigst-Android-Geräte und von einer verlässlichen Verfügbarkeit von performantem Mobilnetz kann keine Rede sein. Keine idealen Voraussetzungen für das schnelle Geld beim Digitalmedien-Angebot also. Welche Modelle entwickeln aber indische Startups, um unter diesen Bedingungen erfolgreich zu sein?

Das Fallbeispiel Juggernaut

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Chiki Sarkar, die Gründerin von Juggernaut (Quelle/Copyright: www.juggernaut.in)

Die Gründerin Chiki Sarkar kommt zwar aus der Führungsspitze der indischen Division von Random House, hat sich aber für Juggernaut mit dem Digital-Spezialisten Durga Raguath zusammengetan, hinzu kommen Investoren und Business Angels wie Infosys, BCG India und Fabindia. Mit Juggernaut kommt ein App-basiertes Modell für digitale Kurztexte in den indischen Markt, das speziell auf den Erwerb und Konsum auf Mobilgeräten ausgelegt ist. “Mobile first” wird hier nicht nur für die Anwendungsentwicklung, sondern für das gesamte Geschäfts- und Angebotsmodell gedacht. Und so kommt es, dass das Startup nicht nur in Branchenorganen, sondern bis hin zur Forbes lobende Erwähnung gefunden hat.

 

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“tailored for mobile and for India”: bereits die Landingpage macht deutlich, wo hier die Schwerpunkte gesetzt werden. Und in den Details des Angebotes setzt sich die Fokussierung fort. (Quelle/Copyright: www.juggernaut.in)

 

Mobile first, digital first – by design

Zunächst einmal geht es also “nur” um eine Mobile App zum Lesen digitaler Texte – was aber macht das Besondere dieses Angebotes für den indischen Markt aus?

  • Die Angebotsform: Die Inhalte können nur über die App erworben und gelesen werden. Damit wird das (in der Praxis ganz erhebliche) Problem der Piraterie umgangen – denn über die Tatsache hinaus, dass schon die Gesetzgebung zum Schutz von intellektuellem Eigentum mehr als lax ist, sind Gesetzesverstöße kaum einklagbar.
  • Mobile first: Zum Ausgleich sind App und ihre Inhalte in jedem Detail optimiert auf die Nutzung mit dem Smartphone – nicht nur was Webtypographie und Funktionen angeht, auch Social-Sharing-Optionen wurden von Anfang an mit integriert.
  • Android first: Bei der App-Entwicklung wurde zwar von vorneherein auf Android und iOS hingearbeitet – aber die Android-Version war bereits einige Monate früher auf dem Markt: eine ausgesprochen sinnvolle Strategie in einem Markt, in dem 80-90% der Nutzer mit Android-Smartphones chinesischer Noname-Anbieter unterwegs sind.
  • Pricing und Geschäftsmodelle: Das Preismodell ist extrem niedrigschwellig ausgelegt: einzelne Titel beginnen bereits bei 10 Rupien im Einzelverkauf (etwa 15 Cent), die teuersten Titel liegen um die 100 Rupien (etwa 1,50€). Für das Abomodell sind Tagespässe im Preisbereich um die 20 Cent und ein Monatsabo für etwa 5 Euro in der Diskussion. Für den preissensiblen indischen Markt macht das Sinn (Amazon hat sich hier mit dem regionalen Anbieter Flipkart z.T. Preiskämpfe geliefert, bei denen es um Preisunterschiede im Cent-Bereich ging) – die Monetarisierung muss hier immer über die Masse der Verkäufe gehen.

 

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“Crafted for mobile” – dieser Design-Ansatz zieht sich durch alle Teile des Angebots (Quelle/Copyright: www.juggernaut.in)

 

  • Titelauswahl: Die Titelauswahl wurde auf das mobile Lesen kurzer Texte hin vorgenommen – alleine bei den immensen Massen von Pendlern in den indischen Großstädten wird hier eine relevante Kundengruppe angesprochen. Neben einzelnen Literatur-Klassikern sind vor allem Titel zu finden, die sehr spezifisch auf den indischen Geschmack abgestimmt sind. Juggernaut akquiriert aktuell bei vielen kleinen Verlagen des Landes Content für den Ausbau der Plattform, statt sich an internationalen Bestsellern zu orientieren.
  • Discoverability: Neben einzelnen Titelvorschlägen werden die Inhalte auch in Themen-Channels gebündelt, neben klassischen Bündelungen wie “Fiction”, “Politics” oder “Crime” werden hier auch Channels für die Nutzung wie “Best stories to commute” oder regionale Themen wie “India vs. Pakistan” angeboten.
  • Nutzer-Interaktion: Rezensionen und Ratings können in Community-orientierten eReading-Apps ja fast schon als selbstverständlich angesehen werden – dazu kommen Funktionen wie Interaktions-Möglichkeit mit den Autoren, Geschenk-Gutscheine für Freunde sowie der Ausbau des Portfolios durch Serien, Bilderbücher, Graphic Novels und Hörbücher.
  • Mobile Payment: Von Anfang an sind die in Indien gängigsten Bezahlsysteme für Mobile Payment mit in der App integriert. Auch das ist für einen Erfolg nahezu unabdingbar, denn bargeldloses, mobiles Bezahlen ist in diesem Markt bereits sehr viel verbreiteter als in Europa und gehört zu einem mobilen Angebot schlicht dazu.

 

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Auch Mobile Payment gehört zu einem unwiderstehlichen Angebot: Erst wenn nicht nur das Suchen und Finden von Lektüre, sondern auch das Kaufen und Lesen nahtlos und in Sekundenschnelle möglich sind, werden die Hürden für die Monetarisierung so niedrig wie möglich gelegt. (Quelle/Copyright: www.juggernaut.in)

 

Was also auf den ersten Blick wie eine eReading-App unter vielen aussieht, ist in den Details ein ausgesprochen durchdachtes, kluges Modell, das passgenau für eine sehr spezielle Situation entwickelt wurde. Man merkt, dass hier viel Zeit in Markt- und Zielgruppen-Analyse und die Entwicklung eines darauf abgestimmten Angebotes investiert wurde. Und diese Investition kann im Zweifelsfall entscheidender für den Erfolg sein als der Kapitaleinsatz an sich – egal ob in Indien oder hierzulande.

 

 

Veröffentlicht von

www.dpc-consulting.de

XML- und Digital-Publishing-Professional mit Leib & Seele, seit Berufseinstieg in verschiedensten Projekten rund um Content-Management und Datenbank-basiertes Publizieren unterwegs. Seit 2012 selbständig als Berater und Trainer für digitales Publizieren.