Die Schattenseiten der Aufmerksamkeits-Ökonomie

Wird Ihnen der dauernde Zustrom an Content über ihre Online-Kanäle auch manchmal zu viel? Da sind Sie nicht alleine. Der Kampf um die Aufmerksamkeit und Nutzungszeit von Lesern und Medienkonsumenten wird heftiger. Maßnahmen wie die jüngsten Umstellungen im Facebook-Newsfeed zu Lasten von Verlagsinhalten sind nur ein oberflächliches Symptom für eine viel fundamentalere Veränderung: Content ist kein knappes Gut mehr. Noch mehr Inhalte werden nicht helfen – nur ein besserer Zugang zum Kunden.

 

Was passiert in einer Minute im Internet? Zu viel für jeden einzelnen.

Seit einigen Jahren schon erstellen Lori Lewis und Chadd Callahan von Cumulus Media jährlich eine Infografik, die versucht, den aktuellen Traffic von Content und Sozialen Netzwerken kompakt darzustellen. Wahrscheinlich hat sie jeder von uns schon einmal irgendwo in einem Vortrag gesehen oder sogar selbst verwendet:

Was passiert in einer Minute im Internet? (Quelle/Copyright: Lori Lewis, Cumulus Media)

 

Die “Internet Minute”-Grafik ist sinnbildlich für eine ganz zentrale Entwicklung der aktuellen Zeit: In der Online-Welt gibt es im Grunde von allem zu viel. Es wird mehr Content produziert, als die Kunden selbst bei Beschränkung auf persönliche Vorlieben und Schwerpunkt-Themen jemals konsumieren können. War noch um die Jahrtausend-Wende Verfügbarkeit von Content das zentrale Problem für den Nutzer, so hat sich dieses Verhältnis mittlerweile umgekehrt.

 

Wir leben in einer Ökonomie, in der Content kein knappes Gut mehr ist

Das hat profunde Konsequenzen für alle Branchen, die Content produzieren und anbieten – vor allem auf die Verlags- und Medienbranche. Nicht nur ist es so, dass auf einer ganz basalen Ebene das Marktgesetz wirkt, dass Güter umso schwerer zu monetarisieren sind, je weniger knapp sie sind. Im Gegenteil, immer mehr Mechanismen sind sichtbar, mit denen Nutzer beginnen, sich aktiv gegen noch mehr Content abzuschirmen: Die aktive Filterung des eigenen Newsfeed über Twitter oder die Auslagerung der eigenen Filter-Souveränität an Facebook bzw. an die eigene Peergroup auf Facebook sind einfache Beispiele in den sozialen Netzwerken. Maßgeschneiderte persönliche Empfehlungen für Content in Spotify und Netflix zeigen, wie sich der Medienkonsum für Musik und Filme verändert. Und Ad-Blocker sind letztlich auch nur eine Art Notwehr verzweifelter Nutzer, um Texte zumindest für kurze Zeit einmal ohne visuelles Dauerfeuer lesen zu können.

Aber auch in ganz seriösen Fachmedien wirken ähnliche Mechanismen: Das ist zu merken, wenn Fachdatenbanken für Branchenzielgruppen nicht mehr durch “mehr Content” aufgewertet werden können, weil das als Werbeargument nicht mehr funktioniert. Wenn beispielsweise Nutzer einer juristischen Online-Datenbank sagen: “Ich will nicht nochmal 200.000 Gerichtsurteile im System haben. Ich will das eine Urteil haben, das ich wirklich brauche. Und zwar schnell.” Ein anderes Zeichen ist die nach wie vor hohe Beliebtheit von gut gemachten Email-Newslettern. Auf der einen Seite als Oldschool-Medium verschrien, sind sie verblüffend effektive Marketing-Kanäle – wenn sie auf redaktionell hohem Niveau kuratiert werden.

 

Das knappe Gut der Content-Ökonomie: Aufmerksamkeit der Nutzer

Eines wird in der Online-Ökonomie immer deutlicher: Wo Content immer weniger knapp ist, ist es eine andere kritische Ressource umso mehr: Die Zeit und Aufmerksamkeit der Leser. Und darum ist ein erbitterter Wettbewerb entbrannt, vor allem seitdem der mobile Informationskonsum Teil des Medien-Zeitbudgets ist. Schon vor zwei Jahren ist diese Grafik aus den USA dazu erschienen:

 

Die Nutzungszeit von Digitalmedien nach Kanälen in den USA (Quelle/Copyright: KPCB Internet Trends Report 2016, https://de.slideshare.net/kleinerperkins/2016-internet-trends-report)

 

Erstaunlich an dieser Entwicklung ist, dass die mobile Internet-Nutzung dabei die stationäre nicht verdrängt – sondern sie kommt additiv hinzu. Und unter dieser in der Summe jedes Jahr höheren Nutzungszeit für Digitalmedien leiden traditionelle Medien: In erster Linie das klassische, lineare Fernsehen. In zweiter Linie newsgetriebene Printmedien wie Zeitungen und Zeitschriften. Und in dritter Linie alle anderen Print-Medien. Denn am Ende hat der Tag für jeden nur 24 Stunden.

In der Buchbranche erreicht uns diese Entwicklung über Zahlen wie die aus der jüngsten GfK-Studie zum Buchmarkt in Deutschland – was viele Experten lange vermutet haben, wird hier nun deutlich: Die Branche hat in den letzten 5–10 Jahren in erschütterndem Maße Käufer verloren. Zwar wird dieser Käuferschwund aktuell noch durch die “Vielkäufer“ ausgeglichen, doch die werden weniger und älter. Der Branche gehen die jungen Kunden verloren, und das ganz massiv: Bei den jugendlichen Zielgruppen geht die Nutzung weg vom Buch, und hin zu visuellen Medien wie Gaming, Kino und Videostreaming. Porter Anderson von Publishing Perspectives hat dazu bereits 2015 in einem klugen Artikel einen bemerkenswerten Absatz geschrieben:

 

Mit dem Rückenwind der Digitalisierung konnten wir den Output unserer Branche mühelos steigern. Wir haben nicht einmal darüber nachgedacht. Aber was wir nicht gesteigert haben, ist unser Bemühen, neue Leser zu finden. Eines braucht die weltweite Buchbranche derzeit ganz dringend, und zwar nicht gute Bücher. Sondern gute Leser, ein begeistertes Publikum – mehr überzeugte, engagierte, leidenschaftlich loyale, sendungsbewusste Leser. Nicht vielleicht noch mehr Bücher? Nein, nicht noch mehr Bücher.

 

Mehr Content wird uns nicht helfen. Was wir brauchen, ist die Zeit und die Aufmerksamkeit unserer Kunden – und die wird immer schwerer zu gewinnen, je mehr Content es gibt.

 

Kundenzugang als Währung: Die Plattformen als die neuen Gatekeeper

Bereits 2014 hat der Analyst Ben Thompson im gleichnamigen Artikel seine Theorie der “Smiling curve” für die Publishing-Branche entwickelt. Seine These: Die Wertschöpfung im Publishing verschiebt sich weg von den Verlagen, hin zu den Content-Autoren und noch mehr hin zu den Netzwerken als den zentralen Orten für das Entdecken von Content. Wer den Kundenkontakt hat, bestimmt die Wertschöpfung – das Verfügbarmachen der Inhalte durch Verleger tritt in den Hintergrund.

 

Die Smiling Curve im Publishing: Die Wertschöpfung verschiebt sich hin zu den Netzwerken. (Quelle/Copyright: Ben Thompson, stratechery.com)

 

Natürlich sind die zentralen Punkte für den Kundenkontakt heiß umkämpft: Bereits beim spektakulär gescheiterten Leistungsschutzrecht haben die Verlage letztlich den Kürzeren gegen Google gezogen. Und ganz aktuell ist auch Facebook mit seiner jüngsten Umstellung dabei, Publisher-Inhalte aus dem Newsfeed zu drängen – es sei denn, die Verlage bezahlen für Ihre Reichweite. Aber so verständlich die Enttäuschung über diese Entscheidung auch ist: Es gibt kein naturgegebenes Recht auf organische Reichweite und auf Facebook-Traffic.

 

Der Schlüssel zum Erfolg: Reputation, Relevanz und Reichweite

Im Umgang mit den Netzwerken und digitalen Ökosystemen als Quelle von Traffic und Kunden kann uns nur eine pragmatische Haltung helfen: Es wird wohl auch mittelfristig nicht ohne sie gehen – aber daneben müssen unbedingt eigene, direkte Kundenzugänge aufgebaut werden, will man nicht auf Gedeih und Verderb auf Google und Facebook abhängig sein. Relevanz in der Online-Welt und darauf basierende Reichweite kann nicht nachhaltig bei Plattformen eingekauft werden – sie muss durch den Aufbau einer eigenen Reputation, durch eigenen Community-Aufbau und durch eigenständige Reichweite erarbeitet werden. Exzellenter Content gehört natürlich dazu – aber er kann nur die Basis bilden. Entscheidend für den Erfolg werden Haltung, Authentizität und der Stil der Kunden-Kommunikation, will man als Medienmarke in der Aufmerksamkeits-Ökonomie bestehen.

Veröffentlicht von

www.dpc-consulting.de

XML- und Digital-Publishing-Professional mit Leib & Seele, seit Berufseinstieg in verschiedensten Projekten rund um Content-Management und Datenbank-basiertes Publizieren unterwegs. Seit 2012 selbständig als Berater und Trainer für digitales Publizieren.