Die Datenfalle – warum Zahlen lügen können

Wir stecken in einer Zwickmühle: Wir wollen digitale Werkzeuge nutzen und müssen dafür die Software mit Daten füttern, damit sie uns versteht. Und je mehr Daten wir preisgeben, desto besser funktioniert unser Zusammenspiel.
Zugleich wollen wir uns nicht abhängig machen von der Software, denn für die Entwicklung unserer Persönlichkeit und zum Schutz unserer Privatsphäre geben wir zurecht nicht alles preis. Hinter jeder Software steckt auch immer ein Unternehmen oder ein Staat und dahinter wieder Menschen, die einem gut oder weniger gut gesinnt sind. Und während wir als Menschen ein Recht auf Vergessen und Lügen für uns beanspruchen, um überleben und gut leben zu können, arbeitet die Software an der Ewigkeit unserer Daten. “Die Hauptfunktion des Gedächtnisses liegt also im Vergessen” (Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft) – und deshalb machen uns Überwachungsphantasien wie die aktuelle des chinesischen Machtapparats so nervös (siehe z.B. diesen Artikel zur Datenflut in den sozialen Netzwerken in China oder diese ZDF-Reportage über die Strategie der Regierung und Konzerne in China).
Das Thema wird uns die nächsten Jahrzehnte noch begleiten. Werfen wir einen Blick auf den Nutzen von Daten in Unternehmen, so lohnt sich ein Blick auf zwei Erfahrungen:

  1. Daten alleine suggerieren zwar Sicherheit, sind aber ohne die richtige Interpretation eher “false friends” als nützliche Helfer. Es braucht sogar mehr denn je den guten Interpreten, um Holzwege zu vermeiden.
  2. Der Einsatz von Daten will gut überlegt sein. Nicht alles und jedes lohnt die Kontrolle. Und die Art und Weise des Umgangs mit den Daten sind genauso wichtig wie die Qualität des Messens selbst.

Daten allein machen noch keinen Sommer

Die Vermessung der Welt nimmt rasant zu, ob beim Freizeitsport, der Überwachung des gesunden Schlafs oder der Vergabe von Krediten aufgrund sozialen Verhaltens. Meldungen aus In Zeiten von Big Data und den vielen Möglichkeiten, Kundendaten sinnvoll zu nutzen und zu gewinnen, dürfen wir eines nicht vergessen: Daten allein machen noch keinen Sommer. Im Gegenteil. Wie bei jeder Medizin macht die Dosis den Unterschied aus. Will man alles messen, bleiben ein paar wichtige Dinge auf der Strecke. Jerry Z Muller geht in seinem Buch “The Tyranny of Metrics” auf die Gefahren ein, die bei jeder Messung lauern:

  • Professionelles Urteilen aufgrund von Erfahrungen und Leistungen wird ersetzt durch vermeintlich objektive Zahlen.

    Menschliches Verhalten ist nie frei von Fehlern. Das führt dazu, dass man gerne das Risiko verringern möchte. Da die Mathematik einer der Bereiche ist, die im allgemeinen Verständnis objektiv erscheint (die Relativitätstheorie kann man ja auch bei den meisten Dingen des Alltags getrost außen vor lassen), werden Zahlen gerne als verlässliche Größen gesehen, denen man eher vertrauen kann. Der Trugschluss liegt darin, dass auch diese Zahlen richtig interpretiert werden müssen und deshalb immer einen guten Interpreten brauchen. Dieser muss sich und seine Erfahrungen richtig einschätzen können, aber auch die Herkunft der Zahlen und ihre richtige Anwendung im Blick haben. Data Scientists sind nicht umsonst so begehrt. Sie müssen nämlich als Schaltstelle im Unternehmen nicht nur analytische Fähigkeiten mitbringen, sondern vor allem auch zuhören und interpretieren können, um das Wissen der Experten zu Zielgruppen und Produkten zu verstehen. Und natürlich müssen sie unternehmerisches Handeln im Blick haben.
    Man sollte sich bewusst sein, dass man viel Know-how aufbauen muss: Nicht nur die Analysten braucht es und die richtigen Datenquellen, sondern auch viel Aufmerksamkeit bei den Prozessen und Kommunikation, um das vorhandene Wissen im Haus zu heben.

  • Jede Messgröße lädt dazu ein, die Jagd nach den Kriterien als Spiel zu betrachten.

    Mark Graham Brown spricht treffend in einem Beispiel von “chicken efficiency” : Die Mitarbeiter einer Hühnchenbraterei wurden daran gemessen, wie viele Hühnchen gegrillt, aber nicht verkauft wurden. Die Konsequenz der Belegschaft war, dass man immer weniger Hühnchen gebraten hat als von Kunden gebraucht wurden, um bei dieser Kennzahl “weggeworfene Hühnchen” die volle Punktzahl zu erreichen. Es liegt auf der Hand, dass das die positive Entwicklung des Unternehmens nicht fördert, auch wenn die Kennzahl selbst (“weniger Essen wegwerfen und wirtschaftlich handeln”) sinnvoll ist. Der Effekt ist bei den Kennzahlen immer, dass sich der Mensch schnell darauf einstellen kann und dann anfängt zu spielen. Der einmal gedachte Sinn dieser Kennzahl gerät in den Hintergrund, weil die Messung dem einzelnen seine Eigenverantwortung nimmt und ihm das Leben vereinfacht. Das Experiment einer jungen Lehrerin in Brandenburg erinnert nicht von ungefähr an das Buch “Die Welle” oder “Das Experiment” : Sehr schnell akzeptieren und gewöhnen sich die meisten Teilnehmer an die neuen Kennzahlen und richten ihr Verhalten danach aus. Die Konzentration gilt dann dem Erreichen der Kennzahlen und nicht dem Erreichen eines Gesamtziels. Taktik bestimmt das Handeln.
    Man sollte die Verantwortung für die Messgrößen auch immer mit den Betroffenen teilen, um sie in die Verantwortung zu nehmen.

  • Klare Messgrößen unterstützen kurzfristige Maßnahmen und verschleiern langfristige Ziele.

    Die Messbarkeit von langfristigen Zielen ist kaum möglich, weil es im Laufe der Zeit immer mehr Einflussfaktoren gibt, die man auch berücksichtigen müsste. Ob sich ein Kind später zu einem guten Manger entwickelt hat, weil oder obwohl es im Mathematikunterricht aufgepasst hat, darüber kann nur spekuliert werden. Ein sehr gutes Abitur ist noch lange keine Gewähr für die Eignung als Mediziner. Denn dafür sind auch andere Fähigkeiten nötig als die kluge Bewältigung von Prüfungen. Deshalb sind A/B-Tests in Unternehmen immer kurzfristig und klar umrissen, weil sie sonst nicht funktionieren würden. Je klarer der Rahmen abgesteckt ist, desto besser gibt das Testergebnis Auskunft. Wissenschaftliche Forschung funktioniert nur in tausenden von kleinen Schritten. Langfristige Ziele lassen sich in der Regel nie befriedigend messen. Sie kosten einfach zu viel und würden von jedem Controller sofort gestrichen. Deshalb ist in Unternehmen sehr genau zu prüfen, an welchen Stellen der Aufwand der Messungen lohnt. Mittelfristig macht es meistens Sinn, in die Qualität von Daten zu investieren. Aber eben nicht in alle.
    Und man sollte immer überprüfen, ob und wo langfristige und nicht messbare Ziele durch kurzfristige Messgrößen unterlaufen werden.

  • Das Messen selbst und das Prüfen der Einhaltung kosten Zeit und Kraft.

    Die Produktivität nimmt nicht zu, weil gemessen wird. Das weiß jeder, der schon einmal aufwändig Formulare am Amt ausgefüllt, kaputte Formen in Excellisten gesucht oder minutiöse Projektpläne gepflegt hat. Das Messen und das Überprüfen sind buchhalterische Vorgänge, die von der Sehnsucht nach Ordnung und Disziplin getragen werden, aber der Kreativität zur Lösung von Problemen oder autonomen Entwicklung neuer Geschäftsfelder diametral gegenüber stehen (siehe z.B. das provokante Interview mit Niels Pfläging, der variable Planziele vorschlägt, weil der planende, beherrschende Manager ein Mythos ist).
    Hinzu kommt jetzt eine Verwirrung durch die vielen Daten aus so unterschiedlichen Quellen, dass man nicht genau weiß, ob Google Analytics, searchmetrics oder den Daten des eigenen Providers getraut werden kann. Die Tatsache, dass es keine genormten Daten im Netz gibt, führt dazu, dass Data Scientists als die neuen, grauen Eminenzen der Firmen gelten. Ihr Wissen ist gefragt bei der Bewertung der Quellen und ihrer Interpretation. Aber sie kosten auch viel Geld und lohnen den Aufwand nur, wenn ihre Empfehlungen auch ernst genommen werden. Niemand braucht teure Marktforscher, deren Ergebnisse auf Laufwerk D: verschimmeln.
    Man sollte immer das Verhältnis von Aufwand der Messungen in Relation stellen zu den Handlungen, die sich daraus ergeben und die man auch umsetzt.

Vor dem Gebrauch der Zahlen sollte man also seinen Data Scientist befragen. Sonst könnten sie einen in die Irre führen. Wir haben die Daten und wir entkommen ihnen nicht mehr. Aber unseren Umgang mit ihnen können wir sehr wohl steuern. Vor dem Hintergrund dieser Betrachtungen sollte man auch Jack Mas viral gewordene Rede in Davos sehen über den Unterschied zwischen Menschen und Maschinen und den Folgen für die Erziehung: Er rät zu einer verstärkten Bildung all der Fähigkeiten, die das unabhängige Denken, Wertebewußtsein und Gauben, Teamarbeit und die Sorge für andere stärken: Musik, Kunst und Sport. Man muss jetzt kein Romantiker werden, aber ab und an lohnt ein Blick auf Novalis, der vor 119 Jahren dichtete:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,

Wenn sich die Welt ins freie Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten,

Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Meine Schwerpunkte sind die strategische Entwicklung von Unternehmen, die Gestaltung der passenden Geschäftsmodelle und die Kundenanalyse - das klingt nach trockenem Brot. Aber es kann sehr kreativ, anregend und erfüllend sein. Mit dem Master "Digital Media Manager" in München lehre ich Medienkompetenz als Zusammenspiel von Geschäftsmodellen, Technologiebewertung und medialer Kommunikation. Aus meiner Erfahrung als Produktmanager, Verlagsleiter und Geschäftsführer beim Carl Hanser Verlag und Haufe-Lexware kenne ich das Mediengeschäft und die Herausforderungen durch die Digitalisierung. Mit Partnern entwickle ich Plattformen wie flipintu oder lectory und digitale Lernmethoden mit dem Goethe-Institut und verschiedenen Universitäten. Man muss etwas selber erfahren, um es auch vermitteln zu können. Nicht dass ich ein Fan von Steve Jobs wäre, aber seine legendäre Rede in Stanford ist klug und das Motto passt: Stay hungry. Stay foolish. Das Leben ist zu kurz, um es mit sinnlosen Meetings und Phrasen zu vergeuden.