Teil 2 unseres Berichts zur re:publica stellt die gesellschaftpolitischen Themen wie Innovationskritik und Big Data in den Vordergrund. Die Macht der Netzwerke und ihre Mißbrauchsmöglichkeiten waren auf Sessions abseits der klassischen Medienthemen ebenso präsent wie die Disruption analoger Geschäftsmodelle und der Janus-köpfige Charakter von Gesellschaften im Spannungsfeld zwischen Technologiebegeisterung und Abwehr von Veränderung.
Big Data – die Gefahr der neuen Technologie
Bereits in der ersten Session “Why Freedom of Thought Requires Free Media and Why Free Media Require Free Technology” haut Eben Moglen rhetorisch ganz schön auf den Putz. Gut, als Rechtsberater der Free Software Foundation muss er das wohl – man ist ja auch Lobbyist in eigener Sache – aber das Bild, das er in seinem eindringlichen Vortrag zeichnet, gibt einem schon zu denken: Facebook als Gefahr anzusehen, nicht wegen dem was sie falsch machen, sondern wegen dem, was sie richtig machen – nämlich das größte und beste Data Warehouse der Welt zu sein, mit dem mächtigsten Business Intelligence Layer der momentan vorstellbar ist – leuchtet erst einmal nicht unbedingt ein. Aber bei der Vorstellung, ein Geheimdienst wie zum Beispiel der ukrainische (um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen) könnte schlicht eine Firma aufmachen, sich mit einem ganz normalen Company-Account am Affiliate-Programm beteiligen, und die beste Social-Media-API der Welt mit all ihren Möglichkeiten zu Auswertung und Aggregierung der sozialen Graphen nutzen, wird einem schon ziemlich flau im Magen.
Und selbst wenn man seinen radikalen Schlussfolgerungen für die Offenlegung von Technologien, Medien und Internet-Bandbreite nicht in jedem Detail zustimmen kann oder will, in einer Hinsicht hat er bedenkenswertes zu sagen: Auch das Social Reading und die Cloud-Spaces für eBooks implizieren möglichen Missbrauch zuhauf, wenn man das denn möchte – in einer Zeit, in der – wie in Frankreich und den USA bereits geschehen – Google Search-Profile bereits als Beweise in Gerichtsverfahren verwendet werden.
Wenn ein Buch erst einmal weiß wer es liest – dann liest irgendwann das Buch auch den Leser. Oder macht ihn lesbar, in all seinen Gewohnheiten und durch wen auch immer. Und wer ist dann der Leser dieser Lektüre? Dass der erste handfeste eBook-Skandal, nämlich die Löschung eines Buches auf eBook-Readern durch Amazon, hier pikant auf ein “Yes, we know you bought that book. But you are not allowed to read it.” zugespitzt, ausgerechnet ein Buch von George Orwell betraf, ist schon ein selten absurder historischer Treppenwitz.
Disruptive Change
Am zweiten Konferenztag halten Leander Wattig und Marcel Weiß eine Session zu einem brandaktuellen Thema: “Wie überlebt mein Unternehmen die Disruption unseres Geschäftsmodells?” Anhand von Clayton M. Christensens‘ Modell der disruptiven Technologien führen sie einige Modelle ein, die sich über die disruptiven Veränderungen der letzten Jahrzehnte hinweg immer wieder beobachten lassen, und die als Konstanten sowohl Muster der Zerstörung als auch Erkenntnisse für erfolgreiche Bewältigungsstrategien erkennen lassen.
Neue Märkte starten mit neuen Playern, die am unteren Ende mit niedrigen Kostenstrukturen einsteigen, zunächst einmal nur eine Nische besetzen. Oft werden die Technologien (siehe: Videokameras, Digitalkameras, VHS vs. Betamax, SMS, Smartphones, etc.) am Anfang erst langsam adaptiert, erst wenn der Tornado richtig losgeht, wird deutlich, wie wenig die Probleme mit Einstiegshürden, Kosten und Qualitätsstandards, die am Anfang bedeutsam sind, letztlich erfolgskritisch sind für die spätere, neue Nummer 1 am Markt. Die strategischen Fehler passieren interessanterweise genau wegen der Management-Methoden, die sonst als ideal angesehen werden.
Für erfolgreiches Agieren in solchen Märkten kann man offenbar drei denkbare Erfolgsstrategien ausmachen:
- Die Größe des dazugehörigen Marktes beeinflussen (dazu muss man allerdings selbst groß genug sein),
- Warten, bis der Markt groß genug ist, dass es für das eigene Unternehmen lohnend ist, teilzunehmen,
- Autonome Organisationen/Startups ausgründen, die das Geschäft mit anderen Strukturen, Praktiken und Kostenstrukturen treiben kann; eventuell später wieder in die eigene Organisation zurück eingliedern, wenn sie erfolgreich genug sind.
Hindernisse auf diesem Weg gibt es aber natürlich genug: Angefangen von der eigenen, ggf. eher innovationsfeindlichen Unternehmenskultur, über die schlichte Tatsache, dass die Disruption klar sagt: “Die Umsätze werden nie mehr so aussehen wie vorher!”, und dass man das seinen eigenen Leuten klarmachen muss, bis zum notwendigen Shift in den Strategien, dem Daily Business wie auch den Anreizsystemen, z.B im Controlling des Tagesgeschäfts. Dabei helfen kann ein Ansatz wie das “job to be done'”-Konzept des o.g. Clayton Christensen: Tief in den Markt und die Zielgruppen hinein sehen, von außen Sinn und Zweck des eigenen Produktes auf basaler Ebene für sich selbst neu klar machen, und auf dieser Basis neue oder angrenzende Geschäftsmodelle eröffnen. Für uns Content-Schaffende dürfte das in der Regel bedeuten: Vom Content-Payment Abschied nehmen, rein in die Flatrate- und Service-Modelle und nach allen Ansätzen suchen, die einen Einstieg in hochpreisige Consulting- und Training-Modelle eröffnen.
Die übliche Abwehr – Innovationskritik 3.0
Einen ganz hervorragenden Abschluss bildet die letzte Session mit der wunderbaren Kathrin Passig, die ebenso pointiert wie trocken eine selbstironische und trotzdem bitter ernst gemeinte Selbst-Replik zu ihrem Merkur-Artikel “Standard-Situationen der Technologiekritik” von 2009 formuliert: Schon ihre Beobachtungen von damals sollten jedem Entscheider in der Verlagsbranche zu denken geben, denn anhand zahlreicher Beispiele von Innovationen aus Technologiebereichen wie Transport und Verkehr, Rüstungsindustrie, Kommunikation und Medien (sic!) belegt sie durch eine Unzahl zeitgenössischer Zitate, dass die Standardargumente, die uns nun die letzten Jahre von den Skeptikern über eBooks, Apps, Social Media und Webplattformen präsentiert wurden, nicht nur nicht neu sind, sondern sich gleichsam als unsichtbare Traditionslinie durch den gesamten Technik-Diskurs der letzten 200 Jahre ziehen.
In Kürze zusammengefaßt, weil es so schön und plakativ ist, hier der rote Faden, der bei jeder Innovation wieder von vorne beginnt:
1. Wozu soll das überhaupt gut sein?
2. Es ist zu irgendetwas gut, aber wer will das denn wirklich haben?
3. Die einzigen, die das wollen sind a) priviligiert oder b) moralisch zweifelhafte Menschen.
4. Ok, es ist da, aber es wird schon wieder verschwinden.
5. Es ist unzweifelhaft da, wird aber nichts ändern, a) weil es nur ein Spielzeug ist, b) weil man kein Geld damit verdienen kann, c) weil es keiner wirklich braucht.
6. Gut ok, es ist nun wirklich da, aber es ist wahnsinnig mangelhaft und kann eigentlich nichts richtig.
7. Die Schwachen können das ja gar nicht.
8. Wir sehen, dass sich das jetzt in der Breite durchsetzt, aber dieses schlechte Benehmen, das sich dadurch entwickelt!
9. Es verändert unser Denken, Schreiben und Lesen, und zwar zum schlechteren.
Erst nach Durchleben all diesen Phasen sowie erfolgreicher ökonomischer Adaption der Innovation – und je nach Technologie kann das schon einmal zehn bis fünfzehn Jahre dauern – kann man dann langsam mal wieder einen öffentlichen Diskurs führen, der etwas mit dem eigentlichen Thema zu tun hat. Reminds me of a lot of discussions I had in the last years…
Anhand mindestens ebenso vieler Zitate aus den letzten 200 Jahren widerlegt sie sich nun mit lustvoller Begeisterung selbst und zeigt, wie in nahezu jede Innovation mit komplett unreflektierter Technik-Begeisterung stets mehr oder weniger alles überhaupt denkbare zur Rettung der Menschheit hinein interpretiert wurde, so also mindestens: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die Menschen werden alle besser, der Nürnberger Trichter wird endlich Realität, der Hunger auf der Welt verschwindet, alles wird irgendwie besser, irgendwas wird kostenlos, was vorher ein ernstzunehmender Wirtschaftsfaktor war. Gerne genommen auch: Weltfrieden.
Und was ich wirklich toll finde, ist ihr abschließender Strauß an Ratschlägen: Bescheidener werden bei Blicken in die Zukunft, vor allem, wenn sie über die eigene Lebenszeit hinaus gehen. Einfach mal sagen “I don’t know”, wenn einen der Reporter fragt, wo die Reise hingeht. Akzeptieren, dass die Dinge nicht so einfach sind. Schön. Gelungener Abschluss von drei Tagen Innovationen-Konsumieren. I leave the audience with one of the most beautiful tweets ever:
Siehe auch unsere Beiträge zum Thema Innovation:
Wer will denn schon eBooks, Apps und Co.! Die Wissenschaft?
Crowdsourcing und das mobile Web
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