re:publica 2012 – Impressionen aus der Zukunft, Teil 1

Die re:publica 2012 hatte letzte Woche einmal wieder nach Berlin geladen, um das Neueste zu zeigen, was sich in den Online-Welten und Ökosystemen, in Social Media und Web-Technologien tut, und aufgerufen, in großer Runde darüber nachzudenken, was das für unsere Gesellschaften und das Wirtschaften darin heißt. Der Strom der Besucher wollte kein Ende nehmen, die 3.000 Tickets waren bereits Wochen vorher ausverkauft. Und für die Zukunft der Verlage gab es ein paar Highlights, die im Zusammenhang mit den hier immer wieder diskutierten digitalen Strategien relevant sind. Hier im ersten Teil wird es um die Content- und Produktmodelle gehen, die unsere Branche treiben.

Schreiben wir doch zusammen ein Buch! Erfolgreiche Kooperationsmodelle für Lehrbücher

In “A webpage is a book” zeigt Adam Hyde die schönen Seiten des Digital Publishing in den Zeiten der Online-Plattformen: Mit seiner Firma SourceFabric und seiner Plattform Booktype hat er die Möglichkeit geschaffen, in einem Online-Tool Buchinhalte teambasiert zu erstellen, und nicht nur das reine Schreiben und Publizieren in eine Online-Anwendung zu verlagern, sondern auch den Zusammenarbeits-Prozess so zu organisieren, dass Autoren-Gruppen damit effektiv miteinander Inhalte erstellen und redigieren können – und das notfalls weltweit. Außer seiner Funktion als Content-Management-System kompiliert Booktype die Inhalte in alle gängigen eBook-Formate, erzeugt Web-PDFs sowie Druck-PDFs und hat eine POD-Schnittstelle. Neben der reinen Technik-Plattform praktizieren sie mit den “Book Sprints” eine Arbeitsmethode, die Adam Hyde mit seinen FlossBooks eigentlich einmal für die Erstellung von Software-Dokumentationen entwickelt hat: Agiles, zeitlich extrem komprimiertes miteinander Schreiben in Teams, im Grunde eine Art Scrum für Content-Autoren.

Die Workshop-Photos dazu sehen jedenfalls nach einer Menge intensiver Arbeit aus, und nach eigener Aussage ist es mit dieser Methode schon oft gelungen, anspruchsvolle Bücher in drei bis fünf Tagen von Beginn der ersten Zeile bis zur Druckfreigabe zu schreiben. Natürlich öffnen sie dazu nicht nur die Technikplattform mit Open Source-Lizenz für die breite Öffentlichkeit, sondern geben auch gerne Workshops zu Methodik und Begleitung von Projekten – ein kluger Ansatz. Und einen tollen Erfolg haben sie damit schon erzielt: In Südafrika organisieren sich mit dieser Methode und Plattform inzwischen Lehrer, um ihre eigenen Schulbücher zu schreiben und zu veröffentlichen – einige davon haben es mittlerweile in die offiziellen Curricula geschafft, weil sie offensichtlich besser waren, als die der örtlichen Schulbuchverlage. Und wer einmal ein Beispiel vom Output dieser Arbeitsweise lesen will – “Collaborative Futures” ist so geschrieben worden und hat sich sein eigenes Thema konsequenterweise auch als Methode gewählt.

Open Learning – das Schlagwort in den nächsten Jahren

Möglicherweise wird Open Learning DIE Chance, dass die Communities in die Lücke springen, die der Staat zur Zeit als großes Vakuum im Bildungswesen hinterläßt, weil er weder die Finanzkraft, noch die Strukturen oder das Know-How hat, den Stand der heutigen Wissenschaften effektiv in die Fläche zu bringen. In der ersten Session dazu formuliert Anja C. Wagner auf fulminant-fundierte Weise (thx an Katja Splichal von PaperC für diese Wortschöpfung), in einem Parforce-Ritt über ihre Dissertation, der manche Zuhörer atemlos zurückläßt vor lauter Hochgebirgsmassiven an Modellen und Konzepten, das Theoriegerüst einer Lern-Gesellschaft für die nächsten 25 Jahre. Ich unternehme an dieser Stelle nicht einmal den Versuch einer Zusammenfassung – wen es interessiert, der greife zum kostenlosen PDF-Download, lese, und staune.

Richtig klasse wird es aber dann bei der Anschluss-Session, in der die Projekte vorgestellt werden, die in diesen Bereich laufen: Neben dem Hive Learning Project, das Michelle Thorne von der Mozilla Foundation vorstellt, und Anja C. Wagners eigenem Projekt ununi.tv für eine Art permantes Barcamp der Fernseh-, Funk- und Bildmedien-Schaffenden bleibt vor allem Jonas Liepmanns’ iversity in bleibender Erinnerung: Für alle, die auf universitäre Art Lernen und Lehren wollen, steht hier eine Open-Source-Plattform offen, mit der Dozenten, Kurse, Lerngruppen oder Forschungsprojekte ihre Arbeit und ihr Lernen kollaborativ organisieren können. Neben der Infrastruktur für Kontakte/Termine/Veranstaltungs-Orga kann hier jede Art von Material zum gemeinsamen Lernen gesammelt und verteilt werden – d.h. angefangen bei den Texten über die Ergänzung durch Audio, Video, Linking in alle Social Plattforms – bis hin zu Social Reading a la Teilen von Notizen, Anmerkungen und Unterstreichungen. Und natürlich kann man das alles zu Seminar-Readern zusammenstellen, die dann als Microsite oder PDF zur Verfügung stehen – oder per POD-Schnittstelle auch nach Hause geliefert werden. Aufgepaßt Verlage, da wächst einmal mehr ein Haufen Publisher heran, die vorher nie als Verleger sichtbar waren – die aber richtig gefährlich werden können, wenn sie einmal Masse und Dynamik bekommen…

Siehe hierzu auch unsere Beiträge:
Wer will denn schon eBooks, Apps und Co.! Die Wissenschaft?
Universitäten als Verlage
Augmented Reality in Medien

iversity - collaborative open education platform

Visual & transmedia storytelling – Erzählen für die Zukunft

Gleich drei Sessions am zweiten Tag befassen sich mit dem Storytelling in all seinen innovativen Varianten. Ivan Sigal von Global Voices und Bjarke Myrthu von Storyplanet kommen dabei in ihrer Session zu “New Directions in visual storytelling” aus der Perspektive der visuellen Medien und zeigen aus der Sicht von Fotographen und Filmern, wie sich durch Kombination von Bildwelten mit Erzählsträngen ganz neue narrative Formen entwickeln lassen. Auf Storyplanet lassen sie beispielsweise die Menschen aus Ägypten, die sich in den Tagen der friedlichen Revolution auf der Straße und in den Online-Netzwerken für ihr Land eingesetzt haben, auf ganz besondere Weise ihre eigene Geschichte erzählen. Doch auch für die textorientierten Medien sind zwei ihrer Impulse bedenkenswert: Ihre konsequente Abkehr vom Modell des linearen Erzählflusses und die Wendung hin zu storylines, die eher die Form von Baumwurzeln haben, sich verzweigen und vom Leser in fast beliebiger Weise assoziativ begangen werden können. Auf der anderen Seite betonen sie zu Recht, wie sehr sich beim Content-Sammeln im Sinne der Curation das alte Autor/Leser-Modell auflöst, und sich stattdessen alle Beteiligten in den Rollen als Leser, Schaffender, Kommentator, Kurator oder auch Remixer um den Content der Geschichte scharen, und je nach Situation verschiedene Schwerpunkte setzen.

In zwei Sessions hintereinander heißt das Zauberwort dagegen Transmedia Storytelling: Rund um Dorothea Martin, ihre Agentur imaginary friends und ihren Verlag Das wilde Dutzend sowie viele große und kleine weitere Projekte wie die virtuelle Gemeinschaft Transmedia Storytelling Berlin herum schart sich in der Hauptstadt eine bunte und fröhliche Szene von Kreativ-Schaffenden, die ihr Storytelling nicht nur multimedial in Szene setzen, sondern auch über alle denkbaren Social Networks und Webplattformen hinweg verteilen, und dabei eifrig die Grenzen zwischen Realität und Fiktion austesten. Eine Romanfigur bekommt da schon mal einen Facebook-Account, twittert munter über ihre Befindlichkeit und verschickt ihre Fan-Postkarten selbst, Bonus-Content wird per Google-Maps-Schnitzeljagd und Geocaching unter das geneigte Volk gebracht und die Erzählstränge verteilen sich über Online-Welten und Realität, so wie es gerade in die Dramaturgie paßt.

Wirkt das auf der re:publica vorgestellte “Transmedia Manifest” der Gruppe noch etwas hölzern und erinnert arg an die Zeiten, als die Filmemacher um Lars von Trier ihr “Dogma” vorstellten, sind die präsentierten Projekte einfach nur schön – so wie bei fritzplus, wo mal eben der preußische Hofstaat als Gemeinschaft von fiktiven Facebook-Profilen wieder aufersteht, oder auch in der Konzept-Studie “Holger complex”: Hier wird ein wunderbarer Entwurf einer dramatischen Entführungs-Geschichte ausgebreitet, die auf einem Facebook-Profil beginnt, von Buch, Hörbuch und Comic begleitet wird, ihre Spuren in der realen Welt durch QR-Codes legt, und schließlich in eine mysteriöse Online-Dating-Plattform mündet, in der sich die reale Halbwelt und die fiktive Story durch die dort aktiven Avatare mischen, bis wie bei einem venezianischem Maskenball nicht mehr klar ist, was Maske ist und was Realität.

Und zum Schluss: Augmented Reality

Fast schon als Dreingabe auf diesen bunten Strauß an Transmedia-Projekten stellt sich tripventure vor: Anne-Katrin Ulrich und Bernd Seveke zeigen eine Kurz-Vor-Live-App, mit der Geolocation-basierte Augmented Reality-Spiele erstellt und an den Smartphone-Kunden distribuiert werden können. Über das Kamerabild eines Smartphones werden hier per Überblendung die Handlungselemente einer transmedialen Geschichte zum Rezipienten gebracht. Auch das stelle ich mir in der Realität wirklich lustig vor – von der Stadtführung ganz besonderer Art, über die Detektivgeschichte an realen Handlungsorten bis zur aus Kindertagen bekannten Schnitzeljagd mit anderen Mitteln sind hier eine Menge toller Anwendungen denkbar, für die hier nun eine Standard-Software zur Verfügung steht.

Weiter geht es in einigen Tagen mit dem Teil 2, der die gesellschaftspolitischen Themen wie Innovationskritik und Big Data in den Vordergrund stellt…

Veröffentlicht von

www.dpc-consulting.de

XML- und Digital-Publishing-Professional mit Leib & Seele, seit Berufseinstieg in verschiedensten Projekten rund um Content-Management und Datenbank-basiertes Publizieren unterwegs. Seit 2012 selbständig als Berater und Trainer für digitales Publizieren.