Kaum ein Thema wird zur Zeit so heftig diskutiert wie Social Reading. Es rührt an den Grundfesten. Denn der Dialog mit dem Autor sollte eigentlich ausreichen. Schließlich dient ein Buch ja in der abendländischen Kultur auch wesentlich dazu, “mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden“. Also sollte ich auch alleine lesen, denn es geht um meine Bildung. Die persönliche Entwicklung wird zwar durch “die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden” noch unterstützt, weshalb Lesezirkel und Salons blühen und die literarische Erörterung zu den Grundfesten deutscher Pädagogik gehören.
Aber zunächst geht man alleine auf Reisen mit dem Autor. Und es wird alleine gedacht. Doch jetzt brechen den Verlagen durch die Digitalisierung ihre bisherigen Geschäftsmodelle zusammen. Und jede Kundenbewegung wird genau registriert, um dort vielleicht auch abseits der bisherigen, immer holprigeren Wege neue Goldadern aufzuspüren. Social Reading kann dafür eine Chance sein.
Dass man den Lesesalon im Netz neu denken und nutzen kann, hat beispielhaft Dirk von Gehlen in seinem Buch “Eine neue Version ist verfügbar” unter dem Schlagwort “Einen Salon eröffnen” formuliert und dieses klassische bildungsbürgerliche Konzept in die Welt des liquiden Content im Web eingeführt. Bei der SZ online wird dieses Konzept nun in der Praxis getestet: In einer moderierten Online-Diskussion entsteht im SZ-Lesesalon eine kollektive Buchkritik von Lesern und Redaktion für Chris Andersons “Makers”.
Neben diesem Experiment aus der Praxis spricht viel dafür, dass die Vernetzung von Lesern über ihren Kristallisationspunkt “Buch” eine Chance ist, über neue Nutzungsmöglichkeiten den Mehrwert der digitalen Lektüre für den Kunden zu steigern:
- Mobile Publishing steigt. Mobile Geräte sind alles andere als einsam. Sie werden stark genutzt für den Austausch mit anderen in den sozialen Netzwerken. Wenn ich schon auf einem elektronischen Gerät lese, warum soll ich dann nicht auch gleich Hans und Luise davon erzählen? Das mache ich doch sonst mit meinen Urlaubsfotos und der Bewertung des Reiseveranstalters auch.
- In ein Buch kann man begrenzt Notizen machen und wenn, dann sind diese für künftige Leser oft hinderlich. Anders bei digitalen Lesegeräten. Hier lassen sich Schichten auf Schichten türmen, aus- und einblenden, vergleichen und kommentieren. Es muss nur einfach sein.
- Wenn sich der Markt eh gerade dreht und wendet, dann fragt sich der Kunde, wo er denn noch eine verlässliche Empfehlung erhält. Meist kommen die von Freunden und Bekannten. Es liegt auf der Hand, dass die sozialen Netzwerke meinungsbildend sind. Oyster ist einer von vielen, der sich das als Abodienst zu Nutzen machen möchte. Und Abos werden künftig über die persönliche Empfehlung anderer Leser getrieben werden.
- Haben wir uns über Jahrhunderte an das Buch als Leitmedium gewöhnt, so bergen die digitalen Produkte doch eine Vielzahl an Annehmlichkeiten und Vorzügen. Sie können interaktiv sein, Wissen einfacher und persönlicher vermitteln und einen direkten Kontakt zum Autor herstellen und und und. In diesen Zeiten des Umbruchs wird mit verschiedensten Produktformen experimentiert. Das macht Spaß. Und bereitet den Controllern schlaflose Nächte.
- Aber es zeigt auch, dass man noch lange nicht erkennen kann. ob und wie diese Produktformen den Austausch mit befördern und suchen. Wir sind weit davon entfernt, Standards zu bieten und die Zeit ist nur eines von vielen Beispielen, die zeigen, dass man auf der Suche ist und sich die Angebotsformen künftig noch stärker mischen werden.
Eine Einschätzung aus dem russischen Markt von Simon Dunlop bringt es auf den Punkt: Empfehlungen aus dem Netzwerk + Abo + Social Reading = tragbares Geschäftsmodell.
Die Experimente werden deshalb zunehmen in nächster Zeit. Sei es dass sich Autoren mit ihren Lesern gemeinsam direkt über den Text austauschen, dass Arbeitsmaterialen von Lehrwerken zu einem Text als zweite Schicht sichtbar gemacht werden oder dass Diskussionen zur besseren Vermarktung angestoßen werden.
In stürmischen Zeiten, geprägt von Piraterie und der Suche nach kostenlosen Inhalten, hilft nur die gute und konsequente Bindung der Kunden, die auch lesen wollen. Das ist ein Weg für Verlage, das ist der Weg, den Amazon beschreitet mit Kindle unlimited und der Integration von Goodreads, und das ist eine Option für Bibliotheken. Letztere können sich sogar zugute halten, das Interesse der Leser ungetrübt von wirtschaftlichen Absichten besser erkennen und bedienen zu können, wie Jessica Leber am Beispiel zahlreicher Bibliotheksangebote in den USA aufführt.
Ob das Sinn macht oder nicht, wird wie immer vom Gebrauch dieser Möglichkeiten abhängen. Oft wird es nicht besser, nur anders. Aber manchmal kommt das Neue unerwartet gut.
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