Verschwörungstheorien – Dichtung und Wahrheit – Teil 1

Verschwörungstheorien sind in letzter Zeit wieder in aller Munde. Sie begleiten den Sturm aufs Kapitol in den USA, Spaziergänge gegen Corona und das politische Säbelrasseln weltweit. The Conspiracy Chart fasst dabei nur einen Bruchteil in einem schönen Schaubild zusammen. Einer Umfrage der Bitkom zufolge sehen sich immer mehr Menschen mit Verschwörungstheorien konfrontiert: 86% der Deutschen im Februar 2022 im Vergleich zu 79% im Jahr 2020.
Sie sind eng verbunden mit unserer Wahrnehmung der Welt über für uns noch relativ neue, digitale Medien. Verschwörungstheorien sprießen dann in den Himmel, wenn einfache und klare Aussagen gesucht werden, weil die Welt zu komplex erscheint, weil sich das Gefühl einschleicht, erdrückt zu werden von mächtigen Firmen oder Ländern, wenn alles um einen herum immer schneller wird. Genau das dürfte jedem heute so gehen. Aber nicht jeder folgert daraus, dass eine große Verschwörung dahinter steckt.
Warum erfahren wir heute einen Boom der Verschwörungstheorien?

Medienkompetenz ist ein Schlüssel zum Verständnis von Verschwörungstheorien

Medien vermitteln uns ein Bild der Welt. Sie erschaffen einen virtuellen Raum, seien es die Gedanken und Metaphern von Schriftstellern, die Bilder von Malern oder die Szenen von Regisseuren. In Schulen lernen wir über Jahre mühsam den richtigen Gebrauch und die Interpretation.
Nun sprießen die Verschwörungstheorien jetzt natürlich so häufig aus dem Boden, weil jeder in der Lage ist, über soziale Netzwerke alles Mögliche zu verbreiten. Und im Überangebot an Nachrichten müssen wir laufend überprüfen, welchen Quellen wir vertrauen und wann wir aufwändig unser Großhirn zur Überprüfung einschalten.
Wenn wir Botschaften in den sozialen Netzwerken interpretieren wollen, müssen wir zudem auch wissen, wie die Geschäftsmodelle der Anbieter sind, wie die Algorithmen funktionieren und in welchen Kommunikationssituationen sie verwendet werden. Wir müssen richtig interpretieren, wie Botschaften durch bestimmte Formate ermöglicht und in welchem Kontext sie gebraucht werden. Das erfordert Medienkompetenz.
Anders gesagt: Eine Aussage auf Telegram muss man anders interpretieren als in einem Fachbuch aus dem Springer-Verlag. Es ist eine immer anders zu bewertende Kommunikationssituation, wenn ich ein Like auf Facebook gebe, einem # auf TikTok folge oder einen Tweet auf Twitter weiterleite. Wer das bei der Interpretation nicht berücksichtigt, zieht schnell die falschen Schlüsse.

In der Episode “Hated in the Nation” aus der Serie “Black Mirror” geht es um Cyber-Mobbing und KI-gesteuerten Terrorismus. In einem sozialen Netzwerk werden unter dem Hashtag “#death to” Personen für ihr mal mehr mal weniger schlimmes Verhalten öffentlich an den Pranger gestellt. Im Dialog sieht eine der Verurteilenden darin nur ein “joke thing” und sie verweist auf ihre “freedom of speech”. Die Aussage “death to” wird als “it was funny. O.k.?” bezeichnet. Damit wird hier die übliche Bedeutung unterlaufen und erst ernst, als diese Person auch wirklich umkommt. Der Punkt in dieser Serie ist, dass ein Terrorist alle sprachlichen Äußerungen in den sozialen Netzwerken “ernst” nimmt und dann die Verurteilenden selbst verurteilt.

1 – Jedes Medium hat seine Konventionen und Regeln. Und es prägt Gewohnheiten und Verhaltensweisen bei den Anwendern, die erst im Kontext verständlich werden. “The medium is the message”.

Wenn die klassischen Medien in ihrer Berichterstattung auf soziale Netzwerke als Quelle verweisen, die scheinbar “Volkes Stimme” wiedergibt, dann adeln sie indirekt nicht kuratierte und geprüfte Aussagen. Wenn z.B. die Tagesschau Äußerungen auf der Plattform Telegram zitiert, so nimmt sie diese aus der Kommunikationssituation heraus und gibt ihr eine Bedeutung über diese Situation hinaus. Telegram wird “zitierfähig” und als wichtige Quelle angesehen.

In der Wissenschaft würde das nicht so leicht durchgehen. Prinzipiell können der Semiotik folgend alle Quellen genutzt werden, aber ob sie auch zitierfähig sind, hängt von ihrer Qualität ab, um die Forschungsfrage zu beantworten.

Auf die Tagesschau übertragen heißt das: Bilden die Äußerungen auf Telegram auch eine Wirklichkeit ab, die repräsentativ ist für das, was gerade passiert und relevant ist? Wenn ein etabliertes Medium mit einer bestimmten Marke andere Medien aufgreift, so ist das auch wie ein Ritterschlag: Wir nehmen das ernst.

Häufig passieren dabei zwei Fehler:

  1. Da die sozialen Netzwerke eine einfach zu durchsuchende Quelle sind und die Botschaften schon direkt vermitteln, werden sie gerne von anderen Medien aufgegriffen. Es ist deutlich einfacher, nach Meinungen im sozialen Netz zu suchen als vor Ort die Personen zu befragen. Nicht jeder nimmt sich die Zeit, die an der Journalistenschule gelehrten Prinzipien zu berücksichtigen, d.h. jede Nachricht und vor allem jedes Foto, jedes Video erstmal zu prüfen auf Datum, Darstellung, Kontext, Bearbeitung etc., weil ja Bilder und Videos scheinbar selbsterklärend die Wirklichkeit darstellen.
    Das führt zwangsläufig zu einem Missverhältnis: Gehört, gelesen und zitiert werden die, die am lautesten schreien. Das ist oft nicht die Mehrheit.
  2. Die Bedingungen des jeweiligen Mediums werden nicht ausreichend reflektiert. Kein Medium erfasst “die Wahrheit”, sondern produziert eigene Bilder der Wirklichkeit und die jeweiligen Empfehlungsalgorithmen von Twitter, TikTok oder Instagram führen uns erstmal immer das vor Augen, was ökonomisch für die Plattformbetreiber sinnvoll ist. Zudem hat jedes Medium sein eigenes CMS und seine eigene Oberfläche: Ob ich “maximal 140 Zeichen Text” oder “gefiltertes Bild oben und Text unten” oder “Kurzvideo mit Musik” als jeweils begrenzende Produkteigenschaften habe – sie prägen nunmal die Aussagen. Es ist ein Unterschied, ob man einen Brief per Hand und mit Füller schreibt mit der Botschaft “Du sollst sterben”, oder ob man diese Botschaft als “#death to” öffentlich macht oder sich dieser Botschaft anschließt. Dass die Geschäftsmodelle der sozialen Netzwerke auf Reichweite aus sind, dass sie die “novelty bias” brauchen als Anreiz und dass “Mann beißt Hund” eine Nachricht ist, “Hund beißt Mann” aber keine – all das muss bei der Interpretation berücksichtigt werden. Sonst läuft man Gefahr, Äußerungen absolut und nicht in Relation zu bewerten. Wenn Kinder streiten und sich Schimpfwörter an den Kopf werfen, so wissen Eltern sehr wohl, dass sich dies relativieren kann und muss.

2 Botschaften verselbständigen sich und werden zu Narrativen.

Weil sich große Gruppen bilden in den sozialen Netzwerken, die wir auch durch die gemeinsamen Schlagworte, Hashtags, Äußerungen sofort analysieren können, entsteht oft der Eindruck, wir hätten es mit einer Gruppe zu tun, die genau weiß, was sie will und tut, die eine klare Botschaft hat. Gewisse Theorien eint diese Gruppe.

Es ist jedoch ein Unterschied, ob sich bestimmte Gruppen schnell und spontan und ohne große Vorbereitung unter Schlagworten finden, oder ob dazu ein längerer Prozess nötig ist. Wir nennen das Bildung: die allmähliche Verfertigung der Gedanken durch Schulen und Hochschulen und ihre Prüfungen. Es etablieren sich Methoden und gemeinsame Ansichten darüber, was z.B. Medizin ist und was nicht. Das braucht Zeit und festigt die Ansichten.

An Hochschulen gibt es eine lange Tradition, wie man mit Theorien umgeht. Das eng mit den Schriften von Francis Bacon verknüpfte Schlagwort der “Falsifikation” dürfte hier Pate stehen für viele: Ich glaube so lange an eine Annahme, bis diese widerlegt wird.
Dahinter steckt die sokratische Haltung “Ich weiß, dass ich nicht weiß”, weil ich die Welt nicht erfassen, sondern nur deuten kann.
Aus dieser Tradition hat sich in der Erkenntnistheorie ein Werkzeugkasten entwickelt, der helfen soll, gute von schlechten Theorien zu unterscheiden.
Wir suchen erst länger nach Belegen bis wir festlegen, ob eine neue Theorie auch wirklich trägt.

Nun ist eine der großen Fragen bei Verschwörungstheorien, wieso diese so gerne geglaubt werden.
Eine neue Theorie richtig zu beweisen ist nicht einfach. Aber das Problem ist, dass die Menschen gerne Lösungen suchen, die ihnen helfen:

  • Da der Mensch nie alles wissen kann, muss er aus der Fülle der Informationen aggregieren und hochrechnen, was wahrscheinlicher ist. Plausibilität schlägt Wahrheit. Denn das geht schneller und garantiert in mehr Fällen das Überleben. Wir prüfen nicht lange, ob die Schlange vor uns giftig ist – wir rennen weg oder töten sie, weil Handeln wichtiger ist als Wissen in diesem Fall.
  • Da der Mensch ein soziales Wesen ist, dass alleine nicht überleben kann, orientiert es sich an einer Gruppe. Diese sichert ihn. Die Zugehörigkeit zur Gruppe ist wichtiger als die eigene Anschauung der Welt. Vor die Wahl gestellt, alleine in einem harten Winter zu sterben, oder sich einer Gruppe mit anderen Wertvorstellungen anzuschließen und den Frühling zu erwarten, treffen die meisten Menschen eine klare Entscheidung. Autorität und Macht ist für manche nicht nur sexy, sie zieht auch viele Mitläufer in ihren Bann. Nicht umsonst veröffentlichte Adorno einen Test, in dem man seine eigene Nähe zu autoritären Systemen testen kann.
  • Die Aussicht auf Belohnung ist eine prägende Kraft beim Menschen. Je nach Hormoncocktail, der uns gerade ins Hirn schießt, wünschen wir uns mal Macht, Schönheit, Wissen, Kreativität oder Autonomie oder sonst noch was und eben nie das, was wir schon haben. Und wir nutzen Botschaften und Gruppen, wenn sie uns hier Belohnung versprechen. Diese fällt naturgemäß bei jedem Teilnehmer anders aus.
  • Da Kommunikation und Medien nicht vom Himmel fallen, sondern gelernt werden müssen, gibt es große Unterschiede in der Fähigkeit, sie zu verwenden. Hitler wäre ohne seinen Starphotographen Hoffmann und den Demagogen Goebels nicht so gut geschult und trainiert worden. Die Schreiber wurden schon im alten Ägypten besonders geehrt und der Kampf um die Medienhoheit prägt jedes politische System.
    Das heißt, dass je nach Medienkompetenz auch andere Fähigkeiten der Einflussnahme auf andere möglich sind und die Interpretation von Botschaften mal besser mal schlechter ist, je nach Wissen.
    Und viele haben nicht die Medienkompetenz, um zu erkennen, was eher wahr und was eher falsch ist.
  • Da wir täglich viele Entscheidungen treffen, treffen wir auch täglich viele falsche Entscheidungen. Bei manchen merken wir erst später, dass sie uns in die falsche Richtung gelenkt haben. Das Phänomen der “sunk costs” führt dazu, dass wir aber gerne länger daran festhalten als uns lieb ist. Denn wir wollen kohärent wirken, so als ob wir auch wirklich die Fäden unseres Lebens in der Hand hielten. Wir wollen die Illusion eines richtig geführten Lebens nicht verlieren, denn als einziges Lebewesen überblicken wir den gesamten Zeitraum und können uns unseren Tod vorstellen, ausmalen, ihn gewollt herbeiführen.

Wir glauben aus vielen Gründen gerne den Botschaften, die uns eine Aussicht auf Belohnung versprechen. Wahrheit spielt da nicht immer die erste Geige: Plausibilität, Zugehörigkeit zu einer Gruppe, eigene Wünsche und bisherige Erfahrungen prägen unser Verhalten.

Medienkompetenz heißt, diese Prägungen zu erkennen, um bei der Analyse der Narrative einen klaren Kopf zu bewahren. Je besser ich erkenne, in welchem Medium welche Botschaft gesendet wird, desto besser kann ich die Theorie dahinter “falsifizieren”.

Es gibt zahlreiche Literatur zum Thema. Hier nur ein paar Empfehlungen:
Die Plattform verschwörungstheorien.info liefert eine gute Übersicht zu Quellen und Literatur.
Die Plattform NewsLiteracyProject bietet für Interessierte, Journalisten, Lehrkräfte an Schulen und Hochschulen Werkzeuge und Impulse zur Identifizierung von Fake News.
Hintergründe liefert dieses Radiofeature der ARD und und empfehlenswert ist diese Serie der Zeit, bei der der Dialog befördert werden soll. Mit unserem Master “Digital Media Manager” in München wollen wir dazu beitragen, Medienkompetenz zu fördern.

Für uns ist ein guter Grund, einen Spezialisten zu befragen, der soeben ein neues Buch herausgebracht hat mit dem Titel “Verschwörungsspinner oder seriöse Aufklärer? Wie man Verschwörungstheorien professionell analysiert”.
Wir haben mit Andreas Edmüller gesprochen.

Meine Schwerpunkte sind die strategische Entwicklung von Unternehmen, die Gestaltung der passenden Geschäftsmodelle und die Kundenanalyse - das klingt nach trockenem Brot. Aber es kann sehr kreativ, anregend und erfüllend sein. Mit dem Master "Digital Media Manager" in München lehre ich Medienkompetenz als Zusammenspiel von Geschäftsmodellen, Technologiebewertung und medialer Kommunikation. Aus meiner Erfahrung als Produktmanager, Verlagsleiter und Geschäftsführer beim Carl Hanser Verlag und Haufe-Lexware kenne ich das Mediengeschäft und die Herausforderungen durch die Digitalisierung. Mit Partnern entwickle ich Plattformen wie flipintu oder lectory und digitale Lernmethoden mit dem Goethe-Institut und verschiedenen Universitäten. Man muss etwas selber erfahren, um es auch vermitteln zu können. Nicht dass ich ein Fan von Steve Jobs wäre, aber seine legendäre Rede in Stanford ist klug und das Motto passt: Stay hungry. Stay foolish. Das Leben ist zu kurz, um es mit sinnlosen Meetings und Phrasen zu vergeuden.