Mit dem “eReading”-Event von Telekom, Thalia, Weltbild, Hugendubel und Bertelsmann wurde für den 01. März die wahrscheinlich interessanteste Veranstaltung für den deutschen eBook-Markt der letzten Zeit angekündigt. Im Vorfeld war gar von der Möglichkeit des “deutschen iTunes” die Rede. Obwohl bei der Pressekonferenz dann zunächst “nur” ein neuer eReader präsentiert wurde, bietet die dazugehörige Infrastruktur interessante Ansätze eines eBook-Ökosystems für den deutschen Sprachraum. Wie sind diese Entwicklungen zu bewerten und welches Potenzial bieten sie für Marktentwicklung und Content-Anbieter?
Die von den fünf großen Partner neu geschaffene Plattform beinhaltet im Kern drei Komponenten, die im Zusammenspiel neue Möglichkeiten für den deutschen eBook-Markt schaffen sollen:
- Tolino shine als neuer eReader, gemeinsam angeboten von allen Partnern
- gemeinsames Backend für die eBook-Shops von Thalia, Weltbild, Hugendubel und Bertelsmann
- Cloud-Speicher für die Kundendaten, gehostet von der Telekom.
Tolino shine
Mit dem Tolino stellen die Partner den neuen eInk-Reader als “Frontend” ihres Angebots vor: Das Gerät beinhaltet ein 6-Zoll-HD-eInk-Display der neuesten Generation mit 1024×758 Pixel Auflösung und 16 Graustufen. Wie beim Kindle Paperwhite oder dem Kobo Glow sind Hintergrund-Beleuchtung und Touchscreen-Funktionalität integriert. Positiv zu bewerten ist die Verwendung von Android als Betriebssystem sowie die Erweiterbarkeit des Geräte-Speichers von 4 GB durch Speicherkarten. Ansonsten ist das Gerät von seiner Hardware-Spezifikation her als solide Alternative zu anderen Readern anzusehen und entspricht insgesamt dem jüngsten Stand der Technik, ohne jedoch neben einem mit 99 € durchaus attraktiven Preis spektakuläre Neuerungen mitzubringen.
Neben diesen technischen Daten hat lesen.net einen ersten Test sowie ein Hands-On-Video zum Tolino veröffentlicht:
Content-Angebot
Die Content-Anbieter Thalia, Weltbild, Hugendubel und Bertelsmann nutzen für ihre eBook-Stores und den Verkauf von Inhalten für den Tolino zwar eine gemeinsame Backend-Infrastruktur, behalten aber jeweils ihre eigenen Shop-Frontends. Auf dem Gerät ist jeweils der Shop des Partners als Standard eingerichtet, bei dem der Tolino erworben wurde. An dieser Stelle wurde also der Weg einer “lose integrierten” Plattform gewählt, die aber durch gemeinsame Technik-Standards und durchgehend verwendetes Adobe DRM zumindest erwarten läßt, dass die Probleme bei Einrichtung und Handling solcher Systeme auf anderen Plattformen nicht auftreten. Mit einem eBook-Angebot von etwa 300.000 Titeln in den jeweiligen Stores ist ein solides Start-Sortiment vorhanden – auch wenn fraglich ist, ob diesen Content-Angebot für einen Medienbereich alleine ausreichend ist, um 2013 noch gegen Apple und Amazon aufzuholen und ausreichend Neukunden zu gewinnen.
Cloud-Infrastruktur
Ein wirklich praktisches Alleinstellungsmerkmal dagegen ist die automatische Synchronisation aller gekauften und selbst importierten eBooks mit einem Nutzerkonto in der Telekom-Cloud. Neben einer Nutzungsmöglichkeit über im Prinzip beliebige Endgeräte hinweg (solange sie das Adobe DRM unterstützen) kann dieser Speicher auch aus verschiedenen Quellen für eBooks befüllt werden – sofern die eBooks DRM-frei oder mit Adobe DRM gesichert sind (d.h. in der Praxis: wenn sie nicht bei Apple oder bei Amazon gekauft wurden). Die Menge der verwendeten Endgeräte ist zwar mit maximal 5 gleichzeitig begrenzt, dafür ist der verfügbare Cloud-Speicher mit 25 GB grosszügig dimensioniert. Neben der Cloud-Speicherung stellt die Telekom auch die Verbindung mit den insgesamt 11.000 WLAN-Hotspots in Deutschland bereit – eine praktische Zugabe.
Die Gestaltung der Shop-Umgebung und die zentrale Cloud-Speicherung realisieren die Content-Verwendung insgesamt flexibler und offener als bei den Konkurrenten Apple oder Amazon. Zentral für die Akzeptanz beim Kunden wird daneben aber sein, ob die Integration von Hardware, Software und Content im System so gelungen ist, dass diese Vorteile auch vom unversiertesten Nutzer verwendet werden können und dass die Bedienung so nahtlos und intuitiv erfolgen kann wie in den Ökosystemen der Konkurrenz.
Ein deutsches eBook-Ökosystem?
Betrachtet man den Tolino und seine Features, hinterläßt das Gesamtbild einen ambivalenten Eindruck: Trotz des formulierten eigenen Anspruchs, wie auch gemessen an den Erwartungen, die nach Events dieser Art bei Apple und bei Amazon inzwischen entstanden sind, wird hier von den fünf großen Partnern ein solides Standard-Produkt ohne wirklich spektakuläre Alleinstellungsmerkmale präsentiert. Ein Zusammenschluss der großen deutschen Anbieter mit insgesamt 30-40% Marktanteil auf Basis gemeinsamer Technik-Standards und mit einer integrierten Infrastruktur ist sicher zu begrüßen – genauso wie die Möglichkeit für den Kunden, eine offenere Systemumgebung zu nutzen als in den Konkurrenz-Ökosystemen. Für jeden Verlag sollte also die Tolino-Plattform zu denen gehören, in die eBook-Angebote unbedingt eingespeist werden sollten – alleine zur Verbreiterung der Marktbasis.
Aus Kundensicht aber werden daneben andere Faktoren für Erfolg oder Misserfolg der Plattform entscheidend sein:
- Kann sich der Tolino bezüglich Integrationsgrad, Convenience und Handling mit der Konkurrenz von Apple und Amazon messen?
- Gelingt es den Partnern, neben dem eBook-Angebot auch andere Medien-Angebote zu integrieren und ihren Shop zu einem attraktiven Content-Hub zu machen?
- Sind die Nutzungsmöglichkeiten von Cloud-Speicher, Hotspots und flexibler Befüllung so gestaltet, dass die Masse der Endkunden die Potenziale auch als Vorteil gegenüber der Konkurrenz erkennt?
- Und nicht zuletzt: Kann die Plattform so viele Content-Lieferanten gewinnen, dass ein echtes Gegengewicht zu den anderen Ökosystemen entstehen kann?
Sowohl aus Deutschland wie auch aus dem internationalem Vergleich sind dazu neben wohlwollender Berichterstattung durchaus kritische Anmerkungen zu hören, die in der vorgestellten Lösung zu Recht nicht den allergrößten denkbaren “Wurf” sehen.
Entwicklungspotenziale
Dabei wären vielfältige Potenziale gegeben, mit denen sich die Tolino-Plattform von Apple und Amazon abheben könnte:
- Für Selfpublisher: Ein attraktives Angebot für Content-Lieferanten aus dem Selfpublishing-Bereich a la Kindle Direct Publishing oder eine Integration bestehender deutscher Selfpublishing-Plattformen könnte die Angebotsbasis schnell um ein Lowcost-Segment erweitern und eine eigene Schicht von Anbietern heranziehen.
- Für Verlage: Ein Umgang mit den Verkaufs- und Marketingdaten sowie die schnelle Verfügbarkeit von Reporting-Kennzahlen, wie sie z.B. Kobo praktiziert, wäre eine echte Alternative für die in diesem Bereich vergleichsweise geschlossenen “Black Boxes” der zwei großen A’s.
- Für Tablet-Nutzer: Logischer nächster Schritt nach dem Tolino Shine wäre ein preislich attraktives Android-Tablet mit Leistungsmerkmalen wie der Kindle Fire, ohne jedoch dessen geschlossenen Charakter zu haben.
- Für Multimedia-Freunde: Auf technischer Ebene könnte der Tolino durch die Integration einer EPUB3-fähigen Reader-Software mit Apple oder Kobo gleichziehen und den Weg für den Durchbruch neuer Content-Angebote ebnen.
- Für den Leser: Als weiterer Schritt für eine Öffnung der Tolino-Plattform wäre ein Angebot von Reader-Apps für Desktop, Mac, iOS, Android und Windows 8 wünschenswert – wie bei den Kindle-Apps von Amazon oder auch mit einem HTML5-basierten Reader im Browser wie unter Google Play könnten die Partner hier beweisen, dass sie dem Kunden wirklich ein universell nutzbares Angebot bieten wollen.
Die Wunschliste denkbarer Angebots-Ergänzungen ist also bereits jetzt lang – und wird mit jeder neuen Funktion der anderen Ökosysteme länger werden. Es bleibt dem deutschen eBook-Markt also zu wünschen, dass sich die Anbieter von Tolino nicht mit dem ersten Wurf begnügen, sondern auch auf lange Sicht kundenorientierte Innovationen integrieren.
Pingback: Tolino – eine Zwischenbilanz | smart digits
Pingback: Die Konsolidierung im deutschen eBook-Markt | smart digits