Vom 20.-22. September geht es in München auf der Tagung “Die Zukunft des Lesens” um die vielfältigen Formen dieser Kulturtechnik. Lesen, Schreiben, Rechnen – so lauten die traditionellen drei Kulturtechniken, die in jeder Grundschule gelehrt werden. Das Lesen ist deshalb auch die Basis einer ganzen Industrie, die davon lebt, dass jung und alt “das Lesen” als wichtigen Wert erachten und Geld dafür ausgeben. Und jetzt kommt die “digitale Medienkompetenz” hinzu, gefordert von Eltern und Staat und beispielhaft erprobt im Projekt Digitale Schule 2020. Diese “vierte Kulturtechnik” beinhaltet nicht nur eine Reflexion der bisherigen drei, sie fordert auch Zeit, Geld und Energie. Sprich: Sie nimmt den anderen drei etwas weg. Und was passiert, wenn sich drei Kinder um die Gunst der Eltern bemühen und es kommt noch ein viertes hinzu? Richtig: Streit!
Digitale Medien fordern andere Formen der Interaktion, sind in dem Sinne “sozialer” und zeichnen sich im Vergleich zu den bisherigen Medien vor allem durch vier Merkmale aus:
- Interaktion: Jeder ist Leser und Autor. Digitale Medien lassen sich einfacher und günstiger von viel mehr Akteuren erstellen, kommentieren und erweitern.
- Vernetzung: Jeder kann einfach zum Distributor werden und seine Inhalte (ver)teilen.
- Multimedialität: Text, Bild und Ton, Film und Interaktion – all das kann neu in verschiedensten Formaten kombiniert werden und schafft neue Darstellungsmöglichkeiten.
- Echtzeit: Sie sind nie abgeschlossen und wollen ständig aktualisiert werden.
Das hat dazu geführt, dass in den letzten Jahren vielfältige Angebote entstanden sind. Rund um social Reading sind Plattformen wie sobooks und lectory entwickelt worden, Google docs und hypothesis prägen den Markt. Anlass genug, uns auf der Tagung mit Fallbeispielen von lectory an Schulen dem Thema zu nähern und die folgenden Thesen zu formulieren, die in Zusammenarbeit mit Christine Khalaf und Ralf Möllers entwickelt wurden.
Thesen zur Zukunft des social readings
(Harald Henzler, Christine Khalaf, Ralf Möllers)
Definition
Social Reading ist die Kombination von Text und Kommunikation über den Text online und öffentlich oder für ausgewählte Leser zugänglich. Leser kommentieren dabei für alle anderen Leser sichtbar den Text und reagieren auf Anmerkungen anderer Leser, gewissermaßen ein Chat im Text über den Text.
Wir meinen mit Social Reading nicht die Kommentarfunktion in den Online-Medien.
Provokationen
- Emojis statt Emotionen: Plappern statt Denken
Social Reading steht im Widerspruch zur Idee des Lesens: An die Stelle des vertiefenden, immersiven und gedanklichen Austauschs mit dem Text des Autors tritt das Geplappere von vielen. - Esprit statt Vernunft: Meinungen statt Kontext
Social Reading fördert die Unart, nicht mehr den gesamten Kontext zu betrachten und bei der Bewertung zu bedenken, sondern sich an Bonmots zu ergötzen und diese zu sezieren. - You never walk alone: Wissen durch Austausch
Social Reading beflügelt das Hinterfragen und Interpretieren des Textes. Es motiviert durch gegenseitigen Austausch und bringt neue Ideen zu einem Text, der sonst nur überflogen wird. Der Text wird ernst genommen, weil er eine gesellschaftliche Wirkung entfaltet und vielfältig zu lesen ist. Aristoteles reagiert auf Platon und Sokrates, Schopenhauer antwortet Kant und Hegel – die Reibung erzeugt Energie. - Der faule Kompromiss: Getretener Quark statt Geist
Social Reading stellt den Abgleich der Meinungen aller in den Vordergrund, statt die wohlüberlegten Gedanken weniger zu fördern. Jeder darf sich am erlegten Wild ergötzen, ohne vorher auch an der Jagd teilgenommen zu haben. - Klein aber fein: geschlossene Gruppen sind besser als offene Geselligkeit
Social Reading funktioniert dann gut, wenn sich eine geschlossene Gruppe mit einem Text auseinandersetzen muss. Das passiert vor allem in Lernsituationen an der Schule oder Universität. Der Autor oder Lehrer ist ja nicht der einzige, der etwas erklären kann. Oft hilft ein Blick eines anderen Schul- oder Studienkollegen, eines Schülers weiter. - Austausch mit Ordnung: über die Entstehung von Sinn aus Regeln
Social Reading ist dann wirkungsvoll, wenn die Meinungen der anderen mehr sind als persönliche Meinungen, die je nach Verdauung so oder so ausfallen. Das sind sie, wenn die Gruppe sich Regeln gibt oder ein gemeinsames Ziel hat, so dass alle Kommentare auf dieses Ziel ausgerichtet sind. So kann die Vorbereitung auf eine Prüfung ein derartiges Ziel sein, bei dem die konzentrierte Kommentierung vieler den Text so aufschlüsselt, dass viele ihn besser verstehen. - Wo bleibt die Führung?! Ohne Moderation kein Metatext, kein Kontext, kein Ergebnis
Eine Führung ist unbedingt notwendig, um das Gespräch zu lenken und die eigene Auseinandersetzung auf das zu richten, was in einem größeren Kontext besehen wirklich wichtig ist. Der Lehrer, der Dozent, der Moderator ist der, der den Kontext im Blick hat und die einzelne Textstelle in diesem Zusammenhang sieht. Seine Kommentare können dann den Lesenden das Zusammenspiel von Besonderem und Allgemeinem aufzeigen.
Der Führende fühlt sich dafür verantwortlich, dass die Diskussion mehr Wert und einen Lernfortschritt bringt. - Jeder ist Leser und Autor – „the medium is the massage“
Einen Text versteht man erst, wenn man selber einen geschrieben hat.
Medienkompetenz heißt, sich des Produktionsprozesses bewusst zu werden.
Medienkompetenz heißt, die verschiedenen Medien auszuprobieren und miteinander zu vergleichen.
Medienkompetenz heißt, als „Inforg“ seine digitale Präsenz als Teil der eigenen Identität aktiv zu gestalten.
Metakognition kann nur durch Erfahrung vermittelt werden, nicht durch Rezeption. - Go to where the music is – Dritte Orte verknüpfen Online und Offline
Online First! Mit digitalen Plattformen und E-Commerce kommt auch Social Reading.
Digitale Plattformen sind der Marktplatz der Zukunft. Die Leute treffen sich virtuell, um zu handeln und zu diskutieren. Einmal online, will ich lesen und kaufen ohne Medienbruch. Die Orte (Bibliotheken, Buchhandlungen, Schulen…) sind im Vorteil, die Online und Offline verbinden.
Versuch eines Fazits
Am Anfang stand ein Irrtum. Aus der Tatsache, dass die Bewohner der sozialen Netze nicht nur Videos ihrer Katzen, sondern auch Fotos ihres Essens, minutiöse Protokolle ihres morgendlichen Kampfes um den ersten Kaffee und überhaupt jedweder Lebensäußerung mit so genannten „Freunden“ und „Followern“ teilen, schloss man, dass dieselben auch bei der Lektüre von Büchern keinesfalls unbeobachtet sein wollen.
Ein Trugschluss, wie sich nach diversen Anläufen, viel Venture Capital und noch mehr Hype herausgestellt hat. Die Lektüre vor allem von belletristischer Literatur ist und bleibt eine einsame Erfahrung. Kaum jemand will bei der Genusslektüre im Buch mit jemandem reden, aber fast alle wollen in den Sozialen Netzen über ihre Lektüre reden, so wie sie auch Artikel in den Online-Medien gerne und meist ungehemmt kommentieren. Das Buch als Chat-Room aber ist offenbar kein Bedürfnis.
Es gibt aber mindestens zwei Szenarien, in denen Social Reading ein Bedürfnis erfüllt:
- Bildung, Arbeit am Text
Eine Gruppe von Lesern (Schulklasse, Seminarteilnehmer, Verlagsmitarbeiter) liest in einem definierten Zeitraum gemeinsam ein Buch und will oder muss sich darüber austauschen. Hier ist Social Reading ein Werkzeug, das die Arbeit erleichtert und die Kommunikation zum Text direkt im Text verortet. - Bonding, Affirmation
Eine hochemotionale Gruppenbindung in und um ein Buch, einen Autor, eine Buchserie oder Genre macht es für die „Eingeweihten“ attraktiv, sich im Buch gegenseitig zu bestärken und zu bestätigen. Ein Autor kann im Buch mit seinen Lesern mit direktem Textbezug kommunizieren und so auch wieder die In-Group bestärken.
(Diese Thesen wurden am 21. September 2017 in München auf der Tagung “Die Zukunft des Lesens” in großer Runde mit Wissenschaftlern, Bibliothekaren, Verlagen, Lehrern und Schülern vor dem Hintergrund der konkreten Erfahrungen mit lectory diskutiert.)
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