Die 4. Revolution – und die Zukunft des Lesens

In seinem klugen Buch “Die vierte Revolution” versucht sich Luciano Floridi an einer Philosophie des Internetzeitalters und seine Thesen lohnen eine nähere Betrachtung, weil man mit ihnen die Zukunft der Medien besser verstehen und diskutieren kann.
Vor dem Hintergrund der heutigen Tagung zur Zukunft des Lesens hier eine Kommentierung der wichtigsten Aussagen.

Mit der Digitalisierung hat sich das Machtgefüge der Medienlandschaft verändert, weil jeder Autor geworden ist und über die sozialen Netzwerke zum Distributor. Und die digitale Welt ist ebenso Ausdruck unserer Persönlichkeit wie jede andere Form der Kommunikation mit unserer Umwelt. Wir stehen inmitten einer „vierten Revolution“: Wir können unsere digitale Identität nicht willkürlich beschneiden, denn sie ist Teil unseres Selbst. Zugleich müssen wir uns Regeln im Umgang mit den neuen, digitalen Werkzeugen geben, die sozial verträglich sind und positiv wirken. Dabei stehen die Werkzeuge der Kommunikation und Identitätsstiftung nur zum Teil allen offen und sind vielfach die Rechte im Besitz von Wirtschaftsunternehmen. Wir sind dabei, uns neu zu erfinden.

Wir organisieren unser Leben zunehmend durch digitale Werkzeuge. Und die Abhängigkeit wächst, nicht nur bei den anbietenden Firmen, auch bei den Nutzern. Suchen Sie noch selbst nach den passenden Terminen mit ihrem Team, oder lassen Sie das Ihren Roboter tun? Meekan hat dafür die passende App und – Hand aufs Herz – vermissen wir wirklich etwas, wenn wir nicht mehr angestrengt nach einem gemeinsamen Nenner suchen müssen?

 

1 Hypergeschichte

Die menschliche Gesellschaft ist in zunehmendem Maße von Informations- und Kommunikationstechnologien abhängig. In “vorgeschichtlichen” Zeiten sind diese nicht vorhanden, in geschichtlichen Zeiten ist das Wohl vieler damit verbunden und in hypergeschichtlichen Zeiten sind Menschen davon abhängig. Die Vernetzung führt zu einer exponentiellen Steigerung der Informationen und damit des Nutzens für immer mehr. Dieses Wachstum kollidiert mit unseren Beschränkungen von Raum (Speicherkapazität der Rechner und Verortung des Menschen in seinem Körper an einem Ort) und Zeit (wir können nur begrenzt Informationen aufnehmen und Kommunikationssituationen managen). Wir sind Getriebene unserer eigenen Schöpfung.
Lesen wird immer wichtiger, um die vielen Informationen richtig und vor allem schnell bewältigen zu können. Die Medienindustrie ist immer schon abhängig gewesen von diesen Technologien und kann deshalb als Spezialist für das Thema herhalten. In dem Moment, in dem alle davon abhängen, kommt ihr eine besondere Bedeutung zu.
Ein twitternder Präsident, der Wahlen mit Fake News gewinnt und dessen Tweets einen Atomkrieg beschwören können, mag nur als ein Beispiel für viele stehen. Da aber nicht nur Präsidenten twittern dürfen und die Einstiegshürden so niedrig sind wie nie zuvor, liegen die Produktionsmittel nicht mehr in der Hand weniger Verleger und durch den Gebrauch der Werkzeuge entsteht Medienkompetenz.

2 Die Infosphäre

Der Mensch nutzt Technologien, um sich besser in der Umwelt zu bewegen. Eine Technologie können Hut und Sandalen sein, mit denen man sich am Strand vor Sonne und heißem Sand schützt. In einer zweiten Stufe kann man Technologien einsetzen, um andere Technologien zu steuern, so wie ein Schraubenzieher eine Schraube bewegt, ein Gaspedal einen Motor in Gang setzt oder ein Schalter einen anderen Spülgang in der Waschmaschine einleitet. Dabei treten leicht Probleme auf, denn nicht jeder Mensch bedient jede Maschine fehlerfrei. Die Störanfälligkeit kann reduziert werden, wenn Technologien sich wechselseitig steuern, ohne das Problem “Mensch”, z.B. wenn im Internet der Dinge die Vernetzung durch klar definierte Schnittstellen schneller und umfassender erfolgt. Standards ermöglichen hier einen reibungslosen Ablauf. Unbestritten werden Roboter künftig eine immer größere Rolle spielen – die Beispiele reichen vom Rasenmähen über das Autofahren bis zum Kochen.
Und Standards prägen auch zunehmend unser Leben, wenn wir nur noch besonders gefilterte Porträts von uns freigeben oder Gemüse und Obst vernichtet wird, weil es nicht von Kunden gewünschten, farblichen (!) Standards entspricht.
Lesen lernen wird in Zukunft vor allem auch heißen, den Metatext zu verstehen. Denn bots empfehlen mir die nächsten Lektüre und Suchalgorithmen schmiegen sich uns immer mehr an. Metadaten sind die Währung der Rechner, sie bedienen die Schnittstellen, beschreiben verkürzt die Inhalte und stellen neue Zusammenhänge her. Und wir müssen lernen, den Kontext zu verstehen. If content is king, context is the queen.

3 Onlife

Der Mensch ist ein soziales Wesen und seine Identität wird geformt aus dem Blick der anderen.
Der Mensch ist ein reflektierendes Wesen und seine Identität wird geformt aus der Entwicklung seiner Tätigkeiten.
Dieser Prozess läuft zunehmend “onlife”. Die digitale Welt konstituiert die menschliche Identität immer stärker und ist so präsent wie der Tritt im Fußballspiel oder das Gekicher über ein modisches Fettnäpfchen der Klassenkameradin. Dabei kommen immer weitere “Sprachen” hinzu, die man lernen muss, um sich in dieser Welt zurecht zu finden und diese richtig zu interpretieren. Wir sind informationelle Organismen, “Inforgs”.
Lesen wird immer wichtiger. Aber die Sprachen werden andere sein. Und sie werden nicht mehr so stark fixiert sein auf geschriebene Sprache: Text wird mit Bild und Video und Interaktion vermischt. Das gilt es richtig zu decodieren, zu verstehen, will man künftig auch möglichst viele soziale Kontakte pflegen. Und neue Orte, Dritte Orte wie z.B. Bibliotheken werden entstehen, die die analoge und digitale Welt anders verknüpfen als bisher.
Durch die schnelle Interaktion mit vielen Gleichgesinnten entsteht eine hohe Dichte an Wissen, vergleichbar mit Epochen konzentrierter Diskussion (wie sie in der Philosophie bspw. in der Griechischen Antike oder dem Deutschen Idealismus sichtbar wurden).

Latein und Griechisch oder besser Englisch? Diese Frage beschäftigt heute immer noch die Lehrer und Eltern beim Eintritt der Kinder ins Gymnasium. Und dabei entwickeln die Jugendlichen mit ihren digitalen Gehülfen schon längst eigene, neue Sprachen, die sie die Welt verstehen und erobern lassen. The medium is the message und formt die Sprache, so wie es hier in A Dream of an Algorithm” Agnieszka Zimolag formuliert: The extended mind is a hypothesis proposed by Andy Clark where the mind does not have to be contained within the brain or physical body, but can extend to the elements of the environment – so that the tools I use are actually part of my mind. They all correlate with my cognitive processes and self-perception. (aus: A Dream of an Algorithm by Agnieszka Zimolag)

 

 

 

4 Die vierte Revolution, die Informationsrevolution

Kopernikus hat uns ins unendliche Weltall geworfen, in dem nur noch ein kleiner Mond um uns kreist.
Darwin hat uns in eine Kette von zufälligen Veränderungen und tödlicher Auslese gestellt, in der wir keinen göttlichen Schöpfer mehr vor uns haben.
Freud lässt unser Ich als kleines Boot im unbewussten Ozean treiben, immer bemüht, im Gleichgewicht von Wellen und Wind nicht die Kontrolle zu verlieren.
Und jetzt kommt KI: Wir werden im Schach und im Go besiegt, als Autofahrer abgelöst und in der Suche nach Informationen schon schnell in unsere Schranken gewiesen. Wir waren so lange “schlauer” als die Affen und werden immer “dümmer” im Vergleich zu unseren Computern. Auch wenn dieser Text hier noch von einem Menschen geschrieben wurde, viele andere sind es nicht mehr und werden doch gerne gelesen. Und vielleicht wird auch dieser Arbeitsplatz bald an IBM und Watson ausgelagert, wie in manch einer japanischen Versicherung.
Aber noch mehr: Algorithmen etikettieren uns, versehen uns mit Preisen und betrachten uns als Waren – denn als Inforgs organisieren wir unser Leben rund um die Informationen, die uns ausmachen.
Und: Wir passen uns dieser im Grunde doch noch recht einfachen Intelligenz an, weil sie uns das Leben einfacher macht. Wir verlegen das Stromkabel, damit der selbststeuernde Rasenmäher auch wirklich nur den Rasen mäht. WhatsApp überträgt jetzt schon unser gesprochenes Wort in Schrift und korrigiert Rechtschreibfehler, Google schlägt uns im autocomplete den passenden Kontext vor.
Lesen wird in vielen Situationen nicht mehr gebraucht. Algorithmen werden uns Zusammenfassungen liefern und die wesentlichen Inhalte so aufbereiten, wie wir sie gerade brauchen. Wir müssen nicht mehr Informationen sammeln, sondern sie richtig suchen und dann bewerten. Metakognition ist so wichtig wie Lesen selbst. Lesen können ist eine Grundvoraussetzung. Aber ich muss nicht mehr alles gelesen haben, um es zu erfassen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, die Beweggründe zu verstehen, die hinter einer Information stehen. Dann lassen sich die Geschäftsmodelle der digitalen Ökonomie und die treibenden Kräfte der Lesenden erfassen.

5 Was nur ich bin und nur ich weiß

Die Privatsphäre definiert sich neu. Informationen fließen von einem Ort zum anderen und werden in unterschiedlichen Kontexten wahrgenommen. Informationen von uns, über uns konstituieren uns als Individuen. Allein unsere Suchhistorie verrät mehr über uns als die Lügen, die wir über uns verbreiten. Der klassische Begriff des Eigentums stößt hier an seine Grenzen und wir müssen bestimmen, wie wir einen größtmöglichen Fluss an Informationen mit einem größtmöglichen Schutz der Identität jeder Person verknüpfen wollen.
Lesen wird für viel mehr Menschen wichtig und viel mehr lesenswertes Wissen steht viel mehr Personen zur Verfügung. Dass sich die Geschäftsmodelle der Medienunternehmen ändern müssen ist die eine Seite der Medaille, die andere ist die Überprüfung von “Fake News” und irreführenden bots, was wiederum lesende Kuratoren und Programmierer voraussetzt. Die sozialen Netzwerke haben jetzt schon die Macht von Kleinstaaten, denn sie verfügen über mehr Informationen über uns als je ein Staat zuvor (erinnert sich jemand an die Diskussion um die Volkszählung von 1987 und was wir im Vergleich dazu an Daten Facebook und Co. überlassen?).

In George Orwells Roman „1984“ arbeitet der Protagonist Winston im »Ministerium für Wahrheit« und schreibt dort die Geschichte um. Zeitungsartikel und andere Schriftstücke werden korrigiert und die Sprache wird so weit wie möglich reduziert. „Big brother is watching you“ in dieser Welt der Fake News, in der die Gedankenpolizei das Sagen hat. Im Unterschied zum Roman sind die Machtverhältnisse in der digitalen Gesellschaft jedoch nicht so klar. Staaten teilen sich den Zugriff auf den Bürger mit Apple, Facebook, Google und Co. – und letztere ermöglichen den eigenständigen Autor und reglementieren ihn zugleich. (Bildquelle: Thenextweb)

6 smarte Begleiter als Handlanger

Roboter werden unser Leben zunehmend begleiten und viele Aufgaben besser übernehmen als wir. Ob sie in der Lage sein werden, Bedeutung hervorzubringen, ist fraglich. Metadaten sind die Währung der bots und sie können diese in viel größerem Ausmaß als Menschen sammeln, neu ordnen und in neue Zusammenhänge stellen. Das aber ist lediglich eine semantische Interpretation, keine semantische Information, die Bedeutung voraussetzt oder gar Wissen, dass Wahrheit und Erklärung benötigt. Das “semantic web” ist (bisher) alles andere als eine von Computern gesteuerte Welt, die Terminator hervorbringt. Aber kluge Algorithmen können bei der Aufdeckung von Morden helfen oder die Auswirkungen von politischen Entscheidungen detaillierter erkennen.
Lesen wird nötig sein, um die Ergebnisse der Werkzeuge zu bewerten, die uns das ausführliche Lesen abnehmen. Das braucht Übung. Und das heißt aber auch, dass künftig weniger Lessing und mehr Fake News in den verschiedenen, digitalen Medien im Unterricht behandelt werden müssen, um das zu verstehen.

7 politische Systeme

Der Staat ist in der geschichtlichen Zeit unsere Form der Organisation von Gemeinschaft. Er ermöglicht Arbeitsteilung, verteilt das Geld mal gerecht mal tyrannisch, bietet Schutz und führt Kriege – und er hat bisher stark die Kommunikation und die Organisation von Informationen gesteuert. Als Inforgs organisieren wir uns jedoch neu und suchen nach anderen Systemen.
Der Staat wird Gesetze zum Schutz des geistigen Eigentums ebenso weiterentwickeln wie er die sozialen Netzwerke zur Überprüfung ihrer Inhalte zwingen wird, um Wahlmanipulationen einzudämmen. Autor sein wird leichter, weil sich jeder der Produktionsmittel bedienen kann. Aber die Grenzen der freien Meinungsäußerung werden durch die Nutzung der sozialen Netzwerke für Marketing und Propaganda und die Steuerung durch bots zu neuen Gesetzen führen.

Noch stehen die bots am Anfang und siri kann nicht verstehen, in welchem Kontext die Frage nach einem “Italiener” oder “Araber” gestellt wird, ob Personen, Pferde oder Restaurants gemeint sind. Es kommt durch die Hochrechnung bisheriger Nutzergewohnheiten jedoch meist näher dran als wir mit unserem eingeschränkten Blick.

8 IKT als Retter oder Grabträger

Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT)benötigen Ressourcen. Die Frage ist, ob wir mit Hilfe neuer Technologien die bisherigen Begrenzungen schneller ausgleichen können als die vorhandenen Ressourcen schmelzen. Beide Szenarien sind denkbar. Ein Szenario, das auf eine Optimierung der Ressourcen und die Schaffung von neuen setzt, nutzt zumindest die Anziehungskraft und Energie derer, die hier teilhaben. Fakt ist, dass die Medienindustrie wie nie zuvor von den technologischen Neuerungen getrieben wird.
IKT werden die Lese- und Schreibgewohnheiten verändern, so wie dies der Buchdruck, die Zeitungen oder der eReader auch schon immer getan haben. Stay hungry, stay foolish, möchte man hier mit Steve Jobs sagen, denn wir können gestalten.

 

Meine Schwerpunkte sind die strategische Entwicklung von Unternehmen, die Gestaltung der passenden Geschäftsmodelle und die Kundenanalyse - das klingt nach trockenem Brot. Aber es kann sehr kreativ, anregend und erfüllend sein. Mit dem Master "Digital Media Manager" in München lehre ich Medienkompetenz als Zusammenspiel von Geschäftsmodellen, Technologiebewertung und medialer Kommunikation. Aus meiner Erfahrung als Produktmanager, Verlagsleiter und Geschäftsführer beim Carl Hanser Verlag und Haufe-Lexware kenne ich das Mediengeschäft und die Herausforderungen durch die Digitalisierung. Mit Partnern entwickle ich Plattformen wie flipintu oder lectory und digitale Lernmethoden mit dem Goethe-Institut und verschiedenen Universitäten. Man muss etwas selber erfahren, um es auch vermitteln zu können. Nicht dass ich ein Fan von Steve Jobs wäre, aber seine legendäre Rede in Stanford ist klug und das Motto passt: Stay hungry. Stay foolish. Das Leben ist zu kurz, um es mit sinnlosen Meetings und Phrasen zu vergeuden.