- Die Jugend kann sich nicht mehr konzentrieren, weil sie dauernd nach Neuigkeiten auf dem Smartphone jagt.
Sie liest nicht mehr aufmerksam und kann deshalb komplexe Zusammenhänge nicht mehr verstehen.
Sie ist damit schlechter auf das Leben vorbereitet und wir blicken einer düsteren Zukunft entgegen, in der doch ein fundiertes Verständnis der Umstände und nachhaltiges Denken und Handeln nötig sind. - Die Jugend kann aufgrund ihre Prägung durch das Smartphone schneller verschiedenste Informationen verarbeiten.
Sie kann sich in unübersichtlich anmutenden Räumen zurechtfinden. Sie agiert vernetzt und agil.
Sie verlässt sich nicht auf tradierte Gesetze und kann deshalb auch in komplexen bis hin zu chaotischen Situationen handeln. Das ist die Voraussetzung, um in der Zukunft neue Lösungen mit Hilfe digitaler Werkzeuge zu entwickeln.
Und? Was meinen Sie?
Liest die Jugend überhaupt noch?
Interessanterweise haben wir bisher in kaum einer Studie Hinweise darauf, dass Kinder und Jugendliche nicht mehr gerne lesen.
Die Kindermedienstudie 2019 (Auftraggeber sind sechs große Medienunternehmen mit zahlreichen Produkten für Kinder – ein Schelm sei, wer hier Voreingenommenheit unterstellt) kommt zum Schluss, dass Kinder zwischen 6-13 sogar in den letzten drei Jahren vermehrt lesen (eine Kurzzusammenfassung findet sich hier). Auf den Untergang des Abendlandes weist das nicht gerade hin.
Die aktuelle Diskussion um die Leseförderung ist stark geprägt von einem „Entweder-oder“, anstatt die Vor- und Nachteile des jeweiligen Mediums zu berücksichtigen. Das zeigt sich dann leider auch in der Ausrichtung und Kommentierung von Studien. So auch in der Umfrage der GFG im Auftrag von Mentor. Dabei ist die Furcht vor digitalen Büchern unbegründet. So zeigte schon 2013 eine Umfrage in den USA, dass Kinderbücher vor allem in gedruckter Form vorgelesen werden. Wir hatten das damals auch kommentiert und die Argumente haben nichts an Gültigkeit verloren. Und auch die groß angelegte Studie Quo Vadis des Börsenvereins (wir berichteten in “Jugend ohne Buch” darüber) belegt, dass Bücher nach wie vor für Jugendliche wichtig sind.
Dagegen stehen die empirischen Beobachtungen von Dozenten und Lehrern, Forschern und Medizinern, dass die Jugend sich nicht mehr so konzentrieren kann wie früher und die Bereitschaft zur vertiefenden Lektüre schwindet. Leider sind das keine Langzeitstudien und nur momentane Beobachtungen, die überhaupt nicht berücksichtigen, ob und wie sich der Mensch verändert. Auch die Forscher rund um die Stavanger Erklärung merken an, dass sie noch nicht über wissenschaftlich verlässliche Analysen verfügen, weil sie weder einen längeren Zeitraum berücksichtigen noch die Adaption des menschlichen Geistes zur Verortung im digitalen Raum. Anders gesagt: Wir befinden uns in einem transitorischen Raum, was die Sozialisierung des Lesens betrifft. Wir haben Leser, die nur mit Gedrucktem aufgewachsen sind wie auch die, die beides kennen. Und wir haben eine rasante Entwicklung in der Nutzung digitaler Geräte in der Gesellschaft, die zu sehr unterschiedlichen Leitbildern bei Jugendlichen führen. Wir haben aber keine Ahnung, ob das am Ende besser oder schlechter sein wird, wie sich die Jugend dann später ihre Sicht auf die Welt bastelt. Sokrates, von der Leseforscherin Maryanne Wolf häufig zitiert, bemängelt den Gebrauch der Schrift, weil er von der Entwicklung des Geistes ablenke. Wir sind Platon dankbar, dass er das anders gesehen hat und rühmen uns unserer Schriftkultur. Denn es gibt sie ja, die zärtlichen Ergebnisse aus Studien, die dem Lesen von Romanen positive Entwicklungen bescheinigen in den sogenannten Sozialkompetenzen.
Seltener sind differenzierte Betrachtungen wie die von Andreas Gold in der FAZ, der eine Schulung von Lesestrategien empfiehlt, um die Vorteile des digitalen Lesens zu fördern und die Nachteile zu minimieren. Es bleiben unabhängig von der Strategie zwei zentralen Fragen:
- Heißt das auch zwangsläufig, dass die Fähigkeit verloren geht, komplexe Zusammenhänge zu verstehen?
- Ist das durch das vertiefende Lesen geforderte Verständnis der Welt die Voraussetzung für ein gelingendes, künftiges Leben?
Verstehen wir komplexe Zusammenhänge nicht mehr?
(weil wir nicht mehr in Ruhe vertiefend lesen?)
Bücher waren über Jahrhunderte das Leitmedium, um komplexe Zusammenhänge aufzuzeigen und die Welt zu reflektieren. Sie waren das Medium zur Speicherung und Weitergabe der Informationen. Das hat sich mit dem digitalen Zeitalter geändert.
Der exponentielle Anstieg von Informationseinheiten lässt sich nicht mehr in Buchform packen. Jeder ist zum Autor geworden, produziert und vertreibt Inhalte auf den verschiedensten Kanälen und reagiert auf Absender in der ganzen Welt. Die Produzenten von Inhalten sind dabei neben Menschen auch Computer.
Der Rückzug der großen Lexika im Vergleich zu Wikipedia spricht Bände: Nur durch Plattformen und kooperative Zusammenarbeit lassen sich diese Mengen noch speichern und vermitteln.
Zugleich wächst die Bevölkerung, die Armut sinkt global gesehen, der Austausch durch eine verbesserte Infrastruktur ist leichter möglich als je zuvor: Die Welt ist zum Dorf geworden.
Um diese Zusammenhänge zu verstehen, benötigen die Menschen auch die Fähigkeit, digitale Medien zu nutzen und aus dem Gebrauch heraus zu analysieren. Komplexität erschließt sich hier auf anderem Wege. Dem cynefin-Modell folgend werden wir Komplexität sogar überhaupt nur durch ein Verproben von Lösungsversuchen begegnen können, nicht durch die Adaption vorhandener Erfahrungen.
Zugleich erfährt jeder durch die Nutzung verschiedener Formate auch mehr über deren Eigenheiten, als wenn er das nur aus einem Buch erführe. Niemand wird ein guter Radiomoderator, Filmemacher, YouTuber, UX-Designer, der das „nur“ durch ein Buch vermittelt bekäme. Tritt damit an die Stelle des Wissens um die Scham der Emilia Galotti das Wissen um das Zusammenspiel multimedialer Inhalte bei der Darstellung der Flüchtlingskrise? Es wird nicht ersetzt. Nach wie vor bieten sich viel mehr Lesern als je zuvor die Möglichkeiten, Lessing zu lesen. Aber die Priorität verschiebt sich bei Lehrkräften und Jugendlichen, wenn der Bezug zu einem gelingenden Leben im Heute nicht sichtbar wird.
Wolf schildert den eigenen Verlust zur vertiefenden Auseinandersetzung am Beispiel der Lektüre von Hesses „Glasperlenspiel“. Dieses Buch hat mich mit 19 auch begeistert. Aber jetzt langweilt es mich aus gutem Grund und nicht, weil ich es nicht mehr vertiefend lesen könnte. Und es steht auch nicht auf der Liste der Bücher, die ich Studierenden zum Lesen empfehle. Denn ich glaube es gibt aktuell bessere Werke, um sich der Welt zu nähern.
Komplexität erschließt sich nicht nur durch vertiefende Lektüre, sondern durch vertiefende Reflexion. Wenn Studierende weniger Geduld haben mit klassischen Texten, so hat das auch damit zu tun, dass diese in unseren Zeiten des Umbruchs nur in Teilen das erklären, was gerade passiert. Und dass wir viel stärker getrieben sind durch soziale Netzwerke, globale Geschäfte und weltweite Krisen, uns permanent wie Eichhörnchen umzuschauen, was gerade passiert. Die sich schneller drehende Welt wird durch die digitalen Medien noch schneller verdreht. Um diese Prozesse zu verstehen, braucht es die Reflexion und die Ruhe, aber nicht unbedingt das langatmige Buch.
In unserem Beitrag zum Buch von Maryanne Wolf “Schnelles Lesen, langsames Lesen” haben wir die Argumente aufgeführt, die für das Lesen von Gedrucktem sprechen. Das Gedruckte verortet Informationen und macht sie dadurch anders auffindbar. Das digitale Lesen verändert das Aufnehmen, weil es auf Schnelligkeit setzt und nicht auf Bewahrung.
Für Wolf fördert das Lesen von gedruckten Werken die Empathie und damit auch die Fähigkeit, andere Menschen zu verstehen. Das Problem an dieser Argumentation ist: Lesen kann das fördern, muss aber nicht. Zentral ist die Haltung und die Art des Gebrauchs des Mediums. Der logische Fehler liegt darin, dass man aus dem jeweiligen Gebrauch eines Mediums allein nicht auf dessen Eigenschaften schließen kann und umgekehrt. Das kann sich jeder selbst vor Augen halten, wenn man sich die folgenden Fragen stellt:
Gibt es mehr “schlechte” oder “gute” Bücher?
Habe ich auch aus “schlechten” Büchern etwas gelernt?
Habe ich mich auch schon “schlecht” verhalten, obwohl ich doch in einem “guten” Buch das gegenteilige Verhalten geschätzt habe?
Erinnert sei an Walter Benjamins Einschätzung des Films als Medium, das die äußere Welt besser zu erfassen weiß als ein Gemälde, weil es den Menschen trainiert, sich auch im Gewühl einer Großstadt zurechtzufinden:
“Der Film ist die der gesteigerten Lebensgefahr, der die Heutigen ins Auge zu sehen haben, entsprechende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Chockwirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren. Der Film entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates – Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt.” (Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Suhrkamp, Frankfurt am Main)
Heute lesen wir diesen Text mit der Distanz und jahrzehntelangen Erfahrungen im Umgang mit Film und Fernsehen. Für Benjamin standen das Gemälde und die auratische Erfahrung in der Begegnung mit einem Kunstwerk im Hintergrund als prägende Medien seiner Kindheit zum Vergleich mit dem Film. Der Film war neu und für Benjamin im Vergleich zum Gemälde nicht mehr auf diese eine Begegnung von Kunstwerk und Betrachter an einem Ort aus, weil seine technische Reproduzierbarkeit den Unterschied zwischen Original und Kopie unnötig macht.
Ähnlich können wir auch heute argumentieren, wenn es um die Lesefähigkeit geht. Das Gedruckte fordert auf zum Besitz und zur Aufbewahrung. Das Digitale fordert auf zur Orientierung im virtuellen Raum.
Die Frage bleibt offen, was wir verlieren. Denn wir werden uns in Zukunft in beiden Räumen bewegen müssen, die Mehrheit der Menschen tut es heute schon. Und wir können uns nicht mehr mit derselben Intensität dem Bisherigen widmen.
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