Was muss ein minimal viable product (MVP) umfassen?

Jason Cohen will seinen Kunden keine MVPs (minimal viable products) mehr anbieten. Das Prinzip “fake it till you make it” führt nicht nur zu Irritationen, sondern auch zu verärgerten Kunden, verbrannter Erde, sozusagen. In Zukunft sollen nur noch SLCs (simple, lovable, complete) auf den Markt kommen, das sind Produkte, die der Kunde liebt, weil sie einfach sind und in ihrer Einfachheit vollständig. Klingt gut, klingt einfach – und ist wie immer nur die halbe Wahrheit:

Cohen nennt selbst die einleuchtenden Gründe für ein MVP: Kleine Produkte kann man einfach und günstig testen, man ist schneller und lernt durch den realen Gebrauch der Kunden und man erkennt das Potenzial. Der Hauptgrund liegt jedoch in der Verknüpfung von Technologie und Globalisierung: Durch digitale Technologien ist die Welt noch enger zusammengerückt und Entwicklungen im Silicon Valley verändern Gewohnheiten in Rosenheim und Tokyo und Alibaba ist den meisten nicht mehr als arabischer Märchenheld bekannt, sondern als Zeichen für chinesische Ökosysteme. Schnelligkeit und Investitionskraft sind in diesem Markt bedeutender geworden. Und sie betreffen auch kleinere Produkte und Angebote, denn alleine die Schnittstellen zu neu aufkommenden sozialen Netzwerken oder Rezeptionsgewohnheiten auf Tablets und mal größeren oder kleineren Smartphones verändern das Angebot und den Aufwand. Man kann also gar nicht mehr monatelang entwickeln, sondern muss zügig auf den Markt und dort mit dem Kunden das Produkt entwickeln.

Das minimal viable product erinnert an die Bananenstrategie (“das Produkt reift beim Kunden”) unzuverlässiger Anbieter. Und doch führt kein Weg vorbei an der Tatsache, dass jedes neue Produkt ohne Veränderung kaum Überlebenschancen hat.

Das MVP ist die Antwort auf drei Probleme:

  1. Geschwindigkeit: Der globale Markt bringt laufend Neuerungen hervor und die großen Ökosysteme kaufen ebenso schnell Neuerungen auf oder entwickeln sie selber. Die Taktgeber für die Marktentwicklung sitzen leider im Silicon Valley oder Shenzhen und kaum jemand kann sich dem entziehen.
  2. Komplexe Technologie: Die vielfach unfassbaren Potenziale der Digitalisierung und die vielfältige Abhängigkeit der Technologien untereinander sowie der Schnittstellen zum Kunden machen Produkte am Reißbrett schwer planbar. Viele Szenarien lernt man erst durch den Gebrauch kennen und kann dann reagieren. Außer es gibt irgendwann einmal einen KI-gesteuerten Portfolioentwickler.
  3. Kundennähe: Die Kunden haben mehr Anbieter zur Auswahl, können leichter vergleichen und beziehen und ihren Unmut vielen kundtun. Zudem buhlen hungrige Start-ups auch um Zeit und Geld bei denselben Kunden. Es gibt also genug Gründe, die Kundennähe ernst zu nehmen und den Kunden immer wieder zu befragen, was er wirklich braucht und haben will.

Co-creation ist deshalb auch kein Werkzeug für eine F&E-Einheit, sondern eigentlich eine Haltung für die gesamte Portfolioentwicklung. Das MVP ist der erste Schritt.
Aber wie soll dieser beschaffen sein?
Es sollte, und deshalb lohnt sich der Blick auf Cohens SLC, den Kunden nicht vor den Kopf stoßen, sondern ihn begeistern, einfach sein und vollständig. Das Problem an dieser Formulierung ist, dass sie schon ein fertiges Produkt fordert. Denn Begeisterung und Vollständigkeit widerspricht allen Erfahrungen der Co-creation. Denn je besser ich meinen Kunden auch in die Entwicklung mit einbeziehe, desto enger binde ich auch meine Kunden an mich.
Deshalb sollte man eher darauf achten, wie den ein MVP sinnvoll gestaltet sein sollte, als gleich ein neues Kürzel auf den Markt zu werfen. Denn “viable” lässt sich vielseitig interpretieren, von “machbar” über “lebensfähig” bis hin zu “wachstumsfähig”.

Es sind deshalb zwei Dinge, die hier zu berücksichtigen sind.

  1. Ich brauche eine Antwort auf die folgende Frage: Was bringt meinen Kunden dazu, mir bei der Entwicklung von neuen Angeboten zu helfen? Worin liegt sein Interesse begründet?
    Wenn ich das weiß, kann ich ihn sinnvoll auch mit noch nicht “vollständigen” Produkten konfrontieren. Mit der Hilfe der limbic map kann ein geschulter Blick z.B. schnell erkennen, was für seine Kunden eine Belohnung darstellt. Diese kann nämlich von der exklusiven Teilhabe an einem besonderen Event über die vertrauensvolle, familiäre Atmoshpäre bis zur kreativen Anregung reichen. Sie muss kein “vollständiges” Produkt sein.
  2. Ich muss wissen, mit welchen Merkmalen ich mein Angebot in drei Jahren ausstatten will, um davon auch abzuleiten, was ich im ersten Schritt zu tun habe. Es klingt paradox, aber nur wenn ich die Summe der Möglichkeiten jetzt schon formuliere, dann kann ich auch meinen Kunden mögliche erste Schritte vorstellen und diese dann weiterentwickeln. Das ist deshalb von Bedeutung, da ich technologisch gesehen Weichenstellungen jetzt im Blick haben muss, um nicht früh schon auf das falsche Gleis zu gelangen. Denn ob beispielsweise mein Kunde Veterinärmediziner von mir per App oder Webseite oder Newsletter informiert werden will, das kann ich zwar austesten, aber noch besser wäre es, einen Fahrplan mit Erweiterungen zu haben, der mir sagt, mit was ich beginnen soll. Und bei Fragen wie “soll ich meinem Kunden künftig neben Informationen auch andere Produkte anbieten” wird deutlich, dass sich hier Investitionen in ein neues Portfolio, Logistik und Lagerhaltung bis zu Know-how verbergen, die schnell hochschnellen können.

In dem Zusammenhang sei der Beitrag von Andrew Askins von Crew empfohlen, in dem er fünf Schritte bei der Entwicklung des mvp einer App vorschlägt. Er entsteht aus der Not, dass man nie genug Geld und Zeit hat, um alle Produktmerkmale zum Start umzusetzen.

  1. Alle Funktionen und Produktmerkmale auflisten, die man für sein Produkt wollen könnte: Hier darf man “ich wünsche mir” spielen – und vor allem sollte man hier alle möglichen Wünsche der Kunden auflisten. Mark Zuckerberg macht es auch nicht anders, wenn er seine Strategie formuliert für die nächsten zehn Jahre.
  2. Alle Funktionen und Produktmerkmale in eine Planungsliste 2 überführen, die man nicht sofort braucht.
    (Wir gehen immer den umgekehrten Weg, indem wir die Prioritäten der Kunden zuerst in den Blick nehmen. Der Effekt ist derselbe.)
  3. Alle Funktionen und Produktmerkmale auf der Startliste markieren, die auch händisch gelöst werden können.
  4. (Schritt 2 und 3 wiederholen)
  5. Jede Bildschirmseite skribbeln und sicherstellen, dass nichts vergessen wurde.

(Siehe hierzu auch unsere Beiträge zur Appentwicklung oder dem Appmarkt.)

 

Meine Schwerpunkte sind die strategische Entwicklung von Unternehmen, die Gestaltung der passenden Geschäftsmodelle und die Kundenanalyse - das klingt nach trockenem Brot. Aber es kann sehr kreativ, anregend und erfüllend sein. Mit dem Master "Digital Media Manager" in München lehre ich Medienkompetenz als Zusammenspiel von Geschäftsmodellen, Technologiebewertung und medialer Kommunikation. Aus meiner Erfahrung als Produktmanager, Verlagsleiter und Geschäftsführer beim Carl Hanser Verlag und Haufe-Lexware kenne ich das Mediengeschäft und die Herausforderungen durch die Digitalisierung. Mit Partnern entwickle ich Plattformen wie flipintu oder lectory und digitale Lernmethoden mit dem Goethe-Institut und verschiedenen Universitäten. Man muss etwas selber erfahren, um es auch vermitteln zu können. Nicht dass ich ein Fan von Steve Jobs wäre, aber seine legendäre Rede in Stanford ist klug und das Motto passt: Stay hungry. Stay foolish. Das Leben ist zu kurz, um es mit sinnlosen Meetings und Phrasen zu vergeuden.