Keine Ahnung? Genau! – Unser Wort des Jahres 2017

Zum Ende des Jahres möchten wir gerne einmal grundsätzlich werden. Denn als Medienexperten können wir die Wahl zum Wort des Jahres 2017 nicht unkommentiert lassen. “Jamaika-Aus” mag tagespolitisch interessant sein, aber unserer Einschätzung nach hätte es nur eine Entscheidung geben dürfen:
“Keine Ahnung? Genau!”
Wie wir darauf kommen? Ganz einfach durch das, was Google auch immer macht, durch eine einfache Zählung. In zahllosen Sitzungen und Vorträgen und Konferenzen haben wir in diesem Jahr unsere Messungen durchgeführt und können empirisch einwandfrei belegen, dass diese beiden Aussprüche mit großem Abstand am häufigsten vorkamen. Es ist die Doppelspitze des Jahres. Weit häufiger als die vielen schönen, fremd und geheimnisvoll klingenden Wörter wie “scrum“, “mvp” oder “blockchain” sind uns diese so einfach und in deutscher Sprache verfassten Wörter allerorts begegnet.

Was mögen Sie wohl bedeuten?
Auch wir rätseln noch ein wenig ob der Gründe für diese Häufung. “Keine Ahnung”, das war in unserer Jugend kein gängiger Begriff und schon gar keiner, der einem gerne über die Lippen kam. Man hatte eine gewisse Ahnung von allem und nur freche Lehrer oder Polizisten stellten das als rhetorische Frage, wenn sie einen auflaufen lassen wollten. Nur widerwillig hätte man zugegeben, den Weg und das Ziel nicht zu kennen. Schließlich hatte man den Brockhaus gelesen und war um Bildung bemüht. Es gab noch so etwas wie die 100 wichtigsten Bücher und Umberto Eco konnte stolz auf die Frage, ob er denn alle Bücher seiner Bibliothek gelesen habe, antworten: “Nicht bloß die, mein Herr, nicht bloß die!” (Wobei ihm vor allem die Ungelesenen auch so wichtig waren wie die Gelesenen.)

Und heute? Jeder, na ja, fast jeder, hat “keine Ahnung”. Und sagt das auch noch! Aber wie kann das sein? Wo doch Amazon und Apple ihre Siris und Alexas auf uns angesetzt haben und uns, jede Frage von der Lippe lesend, diese sofort beantworten? Wo uns bittersüße cookies bei Google jedes Denken abnehmen und auf die Lösung lenken, von der wir gar nicht wussten, dass sie in unserer unbewussten cloud gespeichert liegt.
Wieso also “keine Ahnung”, wo wir doch von allem eine Ahnung haben, jetzt, endlich? Wahrscheinlich ist es die aufkommende Demut vor der künstlichen Intelligenz, die ja wirklich Ahnung hat vom Schach und von Go und vom Einparken. Und jeder, der öffentlich seine überzeugte Meinung kundtut, sieht sich gezückten Smartphones gegenüber, deren Besitzer ihn in Sekundenschnelle widerlegen können. Ja, selbst der eigenen Einschätzungen nach intelligenteste Mensch der Welt, der Präsident der USA, wird täglich auf der New York Times des Besseren belehrt, selbst er kann anscheinend nicht alles wissen, hat “keine Ahnung”. (Und ihm und all den Populisten hier im Lande wäre zu wünschen, sie würden endlich auch dieses “keine Ahnung” einmal in den Mund nehmen, statt ihre Ahnungslosigkeit durch Ahnungen vom Untergang durch DEN Anderen zu vertuschen.) Jetzt erst ist es offensichtlich, auch ohne Philosophiestudium, was Sokrates schon immer wusste: “Ich weiß, dass ich nicht weiß.”
Nun wäre das alles noch nicht so verwunderlich, wenn sich nicht noch ein weiterer Begriff zur Ahnungslosigkeit gesellen würde, einer, der klar und unmissverständlich bestätigt: “genau”.

Zugegeben, es ist nicht einfacher geworden für die Menschheit. Sie muss sich dauernd im Netz ihrer selbst bestätigen und ihr digitales Ich schaut ohne Anzeichen von Alzheimer immer zu. Ach, könnten Google und Facebook nicht auch mal wegschauen, so wie früher die Eltern, die ja hoffentlich auch manchmal “keine Ahnung” hatten von dem, was man so trieb? Der moderne Mensch muss nicht nur zwischen gefühlten 200 Shampoos und Deos im Supermarkt auswählen, sondern sich dauernd seiner Identität bestätigen: mindestens 150 Mal am Tag durch einen Blick aufs Smartphone, einen Check der likes und retweets. Beim match auf tinder kann man im Eifer des Gefechts mal zu schnell oder zu langsam geklickt haben, auf Snapchat haben die fünf Sekunden nicht gereicht und bots überhäufen einen selbst beim Onlineshoppen mit Fragen im Eiltempo. Alles geht in Echtzeit, viel zu schnell für unser tausende Jahre altes Gehirn. Man muss doch zwischendurch auch mal Luft holen und das bestätigen, was grad war! Genau! Man kann sich ja nicht mal mehr seiner selbst sicher sein bei dem Tempo, in dem sich alle Dinge um einen herum verändern. Genau! Wenigsten gibt es auch noch Pinterest und Instagram, die das eigene Leben schön gefiltert präsentieren. Genau so schön ist mein Leben! Genau, das bin ich, ungeschminkt geschminkt, authentisch digital, einmalig und unlöschbar. In Zeiten der Gegensätze wie diesen will ich eindeutig ich sein. Genau!

Sie haben keine Ahnung, ob unsere Wahl richtig war? Führen Sie eine Strichliste auf der nächsten Konferenz, in den anstehenden Besprechungen. Und wenn Sie für “Jamaika-Aus” mehr Striche gezählt haben als für “Keine Ahnung – genau”, dann lassen Sie es uns wissen. Wir sammeln alle Einsendungen, werten diese unter notarieller Aufsicht aus und veröffentlichen diese hier. Ganz genau!

P.S.
In unserer Einschätzung folgen wir nur zum Teil den Kriterien der Gesellschaft für deutsche Sprache in ihrer Wahl. Dort spielen die Neuschöpfung und politische Aussagekraft eine große Rolle. Wir versuchen uns eher an einem sich allmählich abzeichnenden Psychogramm der Gesellschaft. Um mit Luciano Floridi zu sprechen und seiner Frage nach der der digitalen Identität:  “Die vierte Revolution hat uns etwas genommen, nämlich unsere “Einzigartigkeit” (wir befinden uns nicht länger im Mittelpunkt der Infospähre) und sie hat uns etwas gegeben, nämlich eine neue Möglichkeit, uns selbst zu verstehen, als Inforgs.” (Floridi, S. 130) Und genau in dieser Revolution bei der Betrachtung unseres Selbst stoßen wir auf dieses Oszillieren zwischen Bestätigung und Ungewissheit. Empfehlen können wir zur soziologischen Einschätzung der Nutzung von Snapchat und Co. Malcolm Gladwells Rede. Und wer sich für den Zusammenhang von Sprache und Gesellschaft interessiert, dem empfehlen wir eines der klügsten Bücher zum Dritten Reich, das Werk “LTI” von Victor Klemperer, das die Sprache der Nationalsozialisten analysiert, um die wesentliche Züge dieser traurigen Zeit zu erkennen.
Aktuell geht Christian Stöcker vom Spiegel der Ahnungslosigkeit in Zeiten der Wissensexplosion nach. In dem Zusammenhang verweisen wir auf die Entwicklung von Bibliotheken zu  “Dritten Orten”, die nicht mehr lautlose Hüter des Wissens sein wollen, sondern laute Begegnungsstätten.

 

 

Meine Schwerpunkte sind die strategische Entwicklung von Unternehmen, die Gestaltung der passenden Geschäftsmodelle und die Kundenanalyse - das klingt nach trockenem Brot. Aber es kann sehr kreativ, anregend und erfüllend sein. Mit dem Master "Digital Media Manager" in München lehre ich Medienkompetenz als Zusammenspiel von Geschäftsmodellen, Technologiebewertung und medialer Kommunikation. Aus meiner Erfahrung als Produktmanager, Verlagsleiter und Geschäftsführer beim Carl Hanser Verlag und Haufe-Lexware kenne ich das Mediengeschäft und die Herausforderungen durch die Digitalisierung. Mit Partnern entwickle ich Plattformen wie flipintu oder lectory und digitale Lernmethoden mit dem Goethe-Institut und verschiedenen Universitäten. Man muss etwas selber erfahren, um es auch vermitteln zu können. Nicht dass ich ein Fan von Steve Jobs wäre, aber seine legendäre Rede in Stanford ist klug und das Motto passt: Stay hungry. Stay foolish. Das Leben ist zu kurz, um es mit sinnlosen Meetings und Phrasen zu vergeuden.