Die Epidemie hat das Land, hat die Stadt fest im Griff. Die Reaktionen darauf sind sehr unterschiedlich. Alte Ordnungen zerbrechen, neue entstehen, Traditionen werden wieder hervorgeholt, andere verschwinden. Rituale zur Verständigung über Liebe und Treue, Tod und Unheil lösen sich auf. “Gegen dieses Übel half keine Klugheit oder Vorkehrung, obgleich man es daran nicht fehlen und die Stadt durch eigens dazu ernannte Beamte von allem Unrat reinigen ließ, auch jedem Kranken den Eintritt verwehrte und manchen Ratschlag über die Bewahrung der Gesundheit erteilte.” Die Stadt versinkt im Chaos. Zehn Frauen und Männer beschließen in dieser Situation, sich zurückzuziehen und suchen nach Orientierung. Sie ordnen Ihren Alltag, bilden neue Gewohnheiten. Reihum darf jeder für einen Tag das zentrale Thema bestimmen. Unter diesem Leitmotiv erzählen sie sich dann zu festgelegten Zeiten eine unerhörte Begebenheit, eine Novelle. Diese behandeln alle erdenklichen Themen und scheuen sich auch nicht, sich von bisherigen moralischen Vorstellungen zu lösen. Der Umgang mit Erotik und Sexualität ist genauso bedeutend für die Konstituierung von Sinn wie die Haltung zu Lüge und Verbrechen, Treue und Verrat. Aus diesen Geschichten hoffen Sie Struktur und Halt zu gewinnen, Andeutungen dafür, wie sie ihre Zukunft gestalten wollen.
Sie werden es erkannt haben. Bei der Stadt handelt es sich um Florenz. Wir schreiben das Jahr 1348. Boccaccios Decamerone wird heute zurecht als Meilenstein der Weltliteratur gewürdigt. Es geht um den Sinn von Literatur aus der Erfahrung des Chaos.
Aber was hat das mit Corona zu tun, was mit Narrativen, Google, Medienkompetenz und KI?
Der Vergleich soll dazu dienen, einiges klarer zu erkennen. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zur Gutenberg-Galaxis, zu unseren Herausforderungen heute zeigen sich in der Krise besonders deutlich. Es geht darum, was wir warum glauben wollen und sollten und wieso Medienkompetenz nötiger ist denn je, um mit Krisen umzugehen.
In einer Serie von Artikeln versuchen wir uns dem Thema Medienkompetenz zu nähern. Die Corona-Krise schärft unseren Blick. Und sie weist uns darauf hin, was wir in den nächsten Jahren im Blick behalten sollten. Dabei gilt natürlich ein Spruch aus dem Big Data-Management: “What´s right on Monday is wrong on Tuesday”. Jeden Tag verändert sich die Datenlage und führt zu neuen Analysen. Trotzdem müssen wir auch längerfristig planen und dabei agil Annahmen immer wieder überprüfen. Mit unserem neuen Studiengang Digital Media Manager wollen dazu beitragen. Der gemeinsame Diskurs muss aber auf vielen Ebenen geführt werden. Wir freuen uns deshalb über Rückmeldungen, Anregungen und ein Weiterdenken.
Die Themen im Überblick
- Warum alle Zahlen falsch und richtig sind
- Warum uns KI nicht vorgewarnt hat – oder wo war Google Flu Trends?
- Warum Handeln in der Krise Trumpf ist – aber nachdenkliches Agieren in komplexen Systemen lebensnotwendig
- Wie man das eigene Narrativ kritisch bewerten kann
- Was Medienkompetenz in der Corona-Krise bedeutet
Warum alle Zahlen falsch und richtig sind
Wer hat in der Krise recht? Der Kampf der Narrative
In Zeiten des Chaos verändert sich der Kampf um die Deutungshoheit. Wem soll man vertrauen? Was ist richtig und falsch, wenn tradierte Erfahrungen nicht geholfen haben, das Unglück zu erkennen?
Hält man sich vor Augen, welche absurden Theorien zur Zeit auch über Corona verkündet werden (vor allem natürlich von Diktatoren und Populisten) und dass diese leider höhere Klickzahlen erhalten als Nachrichtenportale, so muss man Sacha Baron Cohen Recht geben, dass Google, Facebook und Co. leider mehr manipulativen Müll verbreiten als Aufklärung und kein effizientes Gegenmittel gegen Fake News gefunden haben. Denn ihr Geschäftsmodell beruht auf traffic und Relevanz durch noch mehr traffic, weshalb sie den Teil der menschlichen Natur fördern, der sich im besten Fall mit Katzen unterhalten will, aber leider auch von den eigenen Ängsten und Wünschen getrieben wird und das Hirn nicht einschalten will. So funktioniert Werbung. Boccaccios Schilderungen seiner Landsleute im Umgang mit der Pest oder eine spätere Auflistung in diesem Werk von 1670 machen deutlich, dass der Kampf der Narrative zu allen Zeiten tobte. Je nach Standpunkt vermutet man Weltverschwörungen, gesteuert von der Wall-Street, Bill Gates oder feindliche gesinnten Staaten, Ursprünge des Virus in Laboren der USA, China oder dem Iran oder eine Strafe Gottes. Sie zeigen vor allem eins: Die Vielfalt der Meinungen ist immer geprägt vom eigenen Standpunkt, den Ängsten und Wünschen – und nie objektiv.
Was ist aber anders heute?
Krise, was für eine Krise? Die Hpyerrealität der Medien braucht Medienkompetenz
Der Verlust des Glaubens, des Vertrauens in Politiker, in Lenker und Denker ist wie meistens auf mehrere Faktoren zurückzuführen wie menschliche Fehleinschätzungen, korrupte Vorbilder oder Missbrauch von Ämtern. Das ist nicht neu.
Geändert hat sich der exponenzielle Anstieg an Informationen, die sich schwer zu Wissen bündeln lassen. Karl Valentin konnte sich noch darüber wundern, dass am Vortag genauso viel passiert ist wie in eine Zeitung passt. Heute ist gestern mehr passiert als ich je erfassen kann. Die Medien sind omnipräsent durch den sofortigen Zugriff über das Smartphone und vermitteln globale Gleichzeitigkeit: Wir meinen die ganze Welt zu erfassen, in Echtzeit. Das erzeugt einen völlig neuen Druck.
Nicht von ungefähr scheitern die Vergleiche mit vergangenen Pandemien, denn jetzt fordert uns jede neue Statistik zum Handeln auf. Früher blieb dafür Zeit.
Und wir bekommen die Zahlen stündlich aktuell, verkürzt und optisch ansprechend serviert. Das erzeugt eine Hyperrealität. Wir nehmen etwas wahr, was wir nur durch Medien kennen (denn die wenigsten haben zum Glück unmittelbar mit dem Tod durch den Corona-Virus zu tun). Um diese Hyperrealität aber richtig einschätzen zu können, benötigen wir die Fähigkeit, mit digitalen Medien richtig umzugehen (siehe Teil 5 dieser Serie). Die Diskussion wird ja auch deshalb so erhitzt geführt, weil es darum geht, die mächtig wirkenden Statistiken von Toten und Gesundenden, die Bilder aus Bergamo und Wuhan richtig einzuordnen. Denn wie Richard David Precht es formuliert: Eine vergleichsweise “kleine” Krise macht sofort Maßnahmen möglich, die eine größere Krise (Umweltzerstörung) nicht bewirkt. Und dass, obwohl man mit Habermas sagen kann: „So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie“. Der unmittelbare Schutz der Schwachen steht im Vordergrund und ist nicht einfach zu vermitteln, wie man an den Verschwörungstheorien sieht.
Konnte man sich in der beginnenden Renaissance zurückziehen, auf erzählte Geschichte und Geschriebenes zurückgreifen, diese reflektieren und daraus Empfehlungen ableiten, so genügt dies in unseren Zeiten der medial geprägten Wirklichkeit nicht mehr. Und um die medial vermittelte Wirklichkeit zu erfassen, helfen mir nämlich nicht mehr allein die Erfahrung der Vergangenheit. Ich muss auch einschätzen können, warum mir Googles Algorithmus was genau in meiner Trefferliste nach oben spült. Die global ermittelten Zahlen prägen mein lokales Umfeld, ob ich das will oder nicht. Wir tragen plötzlich auch die Verantwortung für alle mit uns herum. Das ist nicht leicht zu ertragen, die Populisten und Nationalisten haben das erkannt. Und die Frage ist immer berechtigt, welche Wirklichkeit ich als global prägende anerkenne.
Die vierte Revolution (siehe die Thesen des Philosophen Luciano Floridi) stellt genau die Frage, an welcher Stelle uns ein Algorithmus nicht nur im Schach und Go schlagen kann, sondern auch die bessere Empfehlung für unser Verhalten in der Corona-Krise gibt. Wir müssen die scheinbar uferlose Flut an Informationen kategorisieren, filtern, priorisieren und daraus Handlungsempfehlungen ableiten, die wir dann wieder teilen können. Genau das machen Algorithmen.
Das Problem: Im Netz stehen nicht nur wissenschaftliche Abhandlungen, sondern viel Content, der aus wirtschaftliche Interessen meist nur einen Standpunkt vertreten, die sozialen Netzwerke sind voll mit Müll, denn viel zu viele meinen, auch klug denken zu können, nur weil sie ein Video hochladen können. Die Anzahl an Reaktionen verrät mehr darüber, ob hier Wünsche und Ängste der Rezipienten angesprochen wurden – und weniger über die Sinnhaftigkeit, über die Fähigkeit, daraus kluge Schritte für die Zukunft ableiten zu können. “Garbage in – garbage out” heißt es im Datenmanagement. Der Algorithmus kann aus dieser Masse nur das herausfiltern, was die Menschen vorher hineingesteckt haben. Je mehr Müll aber im Netz schwimmt, desto schwieriger wird das Herausfiltern von Sinn. Das zeigt sich deutlich daran, dass uns Google nicht warnen konnte. Und das lag nicht daran, dass sie in China nicht so präsent sind, sondern an ihrem Geschäftsmodell.
Jede Zahl spiegelt eine Perspektive auf die Welt. Da sie immer interpretiert wird und mit Erklärungen versehen ist, stellt sie nie die Welt dar wie sie ist. Sie helfen uns aber, richtig zu handeln. Vorausgesetzt wir überprüfen regelmäßig die Annahmen.