Das Corona-Narrativ – Teil 5: Was Medienkompetenz in der Krise bedeutet

Zum Abschluss der Serie seien hier die Kompetenzen genannt, die in unserer medialen Gesellschaft Schlüsselqualifikationen sein sollten. Denn sie sind nötig, um in schwierigen Situationen gut zu analysieren, angemessen zu kommunizieren und sinnvolle Schritte abzuleiten. Diese Qualifikationen sollten in den Schulen ebenso gelehrt werden wie an Hochschulen, in die Weiterbildung in Firmen ebenso eingebettet sein wie als Module Teil der Medienausbildung einen Raum bekommen.

Welche Folgerungen können wir ziehen? Welche Kompetenzen müssen wir in unserer Gesellschaft fördern?

Klaus Meier und Vinzenz Wyss haben auf die Aufgaben und Versäumnisse des Journalismus hingewiesen, die sich in der Corona-Krise zeigen und die Medienlandschaft reflektiert dies mit Sonderausgaben zur “Entschwörung” wie die taz und oder umfangreichen Analysen wie die CJR zu “fighting misinformation”. Diese Punkte lassen sich übertragen und erweitern als Anforderungen an Medienkompetenz. Medienkompetenz ist dabei keine Domäne des Journalismus oder von Masterstudiengängen wie dem “Digital Media Manager” an der Internationalen Hochschule, sondern beginnt in den Schulen und gehört zu den Schlüsselqualifikationen in unserer Gesellschaft. Sie benötigt eine breite Kulturlandschaft, eine kritische und offene Wissenschaft und ein demokratisches Grundverständnis. Wir haben seit 2012 jährlich Artikel veröffentlicht zur Veränderung der Lehre durch die Digitalisierung und auf Pilotprojekte verwiesen wie die “Digitale Schule 2020” und die Erkenntnisse daraus. Die sieben Handlungsempfehlungen der aktuellen Offensive Digitale Schultransformation mit so unterschiedlichen Akteuren wie dem Deutschen Lehrerverband, der bitkom oder dem Fraunhofer Institut weisen in die gleiche Richtung.

“Infodemie” ist zu einem neuen Schlagwort geworden in der Corona-Krise. Die sozialen Netzwerke und Google verbreiten Falschinformationen stärker als überprüfbare, kritische Recherchen. Dieser Analyse von Correctiv zufolge stehen YouTube (dort werden die Videos hochgeladen) und WhatsApp (darüber werden sie verbreitet) an erster Stelle als “Virenschleudern von Falschinformationen”. Das Gerücht ist mächtiger als die anstrengende Auseinandersetzung mit Wahrheit. Das ist nicht neu und die Diskussion zwingt zu einer anderen Bewertung der Politik als Gegengewicht zu den großen Ökosystemen. Denn angesichts von Pandemien geht es um Leben und Tod. Dieser Aufruf von Ärzten und Wissenschaftlern ist wie ein Hilferuf an die Gesellschaft. Und auch hier gibt es keine einfachen Lösungen, denn Medienkompetenz ist komplex. Natürlich gibt es viele gute Initiativen von Wissenschaftlern und Journalisten, die Bevölkerung aufzuklären (wie z.B. diese hier von Cornell mit einem Überblick von Fehlinformationen). Aber das Problem endet nicht in den sozialen Netzwerken. Auch die Wissenschaften haben mit zu vielen Informationen zu kämpfen, mit Täuschung und Betrug: Falsifikation braucht Zeit, Überprüfung ist kein Daumenheben oder -senken, Wissenschaft ist wie Kunst 99% Transpiration.

Luciano Floridi hat auf die Probleme einer App zur Erkennung von Corona-Überträgern hingewiesen: Eine der zentralen Schwierigkeiten ist die digitale Medienkompetenz, die in Europa nach aktuellen Untersuchungen der europäischen Kommission ungleich verteilt ist und Differenzen in der Bevölkerung schafft. Auch Medienanbieter wie Verlage können hier ihren Beitrag leisten und auch Geschäftsmodelle entwickeln, denn sie müssen diese Kompetenzen nicht nur von den Schulen, Hochschulen und Weiterbildungsanbietern einfordern, sondern auch bei sich im Haus entwickeln: “lebenslanges Lernen” ist das Gebot. Und es heißt, dass Sie genau zu diesen Kompetenzen dann selber wieder Angebote entwickeln können, sei es in Form von Büchern, Seminaren, Plattformen oder Beratungsleistungen. Denn diese Kompetenzen sind auch in Firmen nötig, die selber medial mit ihren Mitarbeitern und Kunden auf den verschiedensten Kanälen kommunizieren. Dass Bildung allein ohne einen Blick auf die Antriebe dahinter nicht die Lösung ist, zeigt leider der Blick auf Verschwörungstheorien, die quer durch alle Bildungsschichten grassieren (siehe hier einen Artikel von News4Teachers dazu).

 

Will man die verschiedenen Narrative in der Corona-Krise einordnen und verstehen, so muss man mindestens auf die folgenden fünf Bereiche eingehen und sie analysieren. Kein Narrativ ist frei davon. Medienkompetenz heißt heute, die Welt besser verstehen zu können, weil die mediale Präsenz auf so vielen Kanälen so erdrückend ist, dass man sich immer wieder Distanz zu ihr verschaffen muss. Das verlangt eine laufende Beschäftigung mit ihnen, ein Aufnehmen und Eintauchen wie eine kritische Reflexion.

 

  • Medienkompetenz heißt Kompetenz im Umgang mit Daten und deren Interpretation
    Vertraue keiner Zahl. Diese suggeriert Faktenwissen, das sie nicht ist. Dabei gilt der alte Spruch “vertraue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast”, aber es muss darüber hinausgehen.
    Es geht einerseits darum zu erkennen, was eine Zahl erfasst und was nicht. Das ist weniger eine Frage komplexer Mathematik als eine der Semiotik und Logik: Auf was genau verweist eigentlich das vorliegende Zeichen (sei es eine Zahl, ein Bild, ein Wort etc.)? Das zeigt sich am Umgang mit Statistiken in der Corona-Krise. Der Statistikprofessor Gerd Bosbach hat früh auf die falsche Berichterstattung hingewiesen, auf die irreführende Verwendung von “Infizierten” und “Sterblichkeitsraten” und die falschen Korrelationen zwischen den Daten. Es genügen Grundkenntnisse der Mengenlehre um zu erkennen, dass die Bezeichnung “infiziert” immer in Relation gesetzt werden muss zum Kontext, in dem man untersucht: “infiziert” bedeutet in der Konsequenz eben immer etwas anderes, wenn man es im Vergleich zu allen in Deutschland lebenden, allen 80-Jährigen, allen Kindern setzt.
    Zur Zahl gehört deshalb immer die Interpretation, die diese erst verständlich macht. Und in dieser Interpretation stecken die Fehler.
    Medienkompetenz heißt, dass man Zahlen und Worte richtig in Beziehung setzt, dass die Interpretation der Daten auch möglichst stimmig ist. “Plausibilität” lautet das Schlagwort, nicht Wahrheit. Und das ist eine nie endende Prüfung (siehe hier z.B. einen von vielen Artikeln, die die Zahlen in Relation stellen und immer zum Schluss kommen, dass man noch mehr Analysen braucht, um die mehr Sicherheit zu erlangen).
    Medienkompetenz heißt, dass man sich des Narrativs bewusst ist, das man gerade speist. Die verschiedensten Botschaften muss man decodieren können, die von den eigenen Analysen und Darlegungen ausgehen. Denn der Mensch ist ja nicht an den Zahlen interessiert, sondern an ihrer Bedeutung. Mathematik ist nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel zum Beweis von Narrativen. Das Narrativ wirkt glaubhaft, wenn es durch Zahlen scheinbar belegt wird. Zahlen können jedoch fehlerhafte Narrative aufdecken, aber nie vollständig ein Narrativ belegen.
  • Medienkompetenz heißt, KI und die Quelle der vielen Daten verstehen zu wollen
    Datenanalyse ist Quellenkritik. Wenn die Quelle ein Algorithmus ist, so muss man diesen verstehen wollen.
    Anders gesagt: Ohne Suchmaschinen und die Aggregation von Daten kommen wir heute nicht mehr aus. Erst die Zusammenführung vieler Datensilos schafft Wissenstransfer und ermöglicht die Forschung am Virus (siehe hier das Projekt CovidGraph, das sich an dieser Vernetzung versucht, sowie den Artikel hierzu von Dirk Möller). Will man mit Medien kompetent umgehen, muss man kritisch mit den Quellen umgehen können. So wie jeder Historiker die Beschaffenheit der Quellen analysieren muss, will er daraus die Geschichte rekonstruieren, so muss man kritisch die Quellen der Trefferlisten und aggregierten Daten betrachten. Das heißt nicht, dass man den Algorithmus selber programmieren kann (so wenig, wie man selber ein Buch drucken können muss, um es zu verstehen), aber man muss die Bedingungen seines Entstehens erfassen.
  • Medienkompetenz heißt, das jeweilige Trägermedium genau zu kennen
    Jedes Medium offenbart einen Teil der Welt – und verhindert im Moment der Rezeption, dass vieles andere nicht wahrgenommen werden kann. Jedes Medium ist Offenbarung und Beschränkung zugleich. Und es ist ein Unterschied, ob man die Botschaften über Podcasts, Bücher oder das Fernsehen vermittelt, kostenpflichtig oder kostenlos und wie sie in den jeweiligen Betriebssystemen von Apple, Amazon, Google und Co. dann abgebildet werden. Eine Kenntnis der jeweiligen Geschäftsmodelle der Medienanbieter ist ebenfalls nötig, um den Unterschied zwischen Fox-News und der NYT, der Tagesschau und dem Spiegel zu begreifen.
  • Medienkompetenz heißt, die Ängste und Wünsche zu erfassen, die uns zu Fehlern verleiten
    Warum aber finden sich in den Medien laufend fehlerhafte Angaben? Sie weisen auf ein einfaches Dilemma hin: Der Mensch möchte einfache, schnell verständliche Aussagen, auch wenn sie fehlerhaft sind. Denn die Ängste und Wünsche prägen unser Bewusstsein und es wäre töricht zu glauben, Data Science allein würde die Berichterstattung verbessern.
    Wir brauchen deshalb immer auch eine Vorstellung von den psychologisch fassbaren Triebfedern für Kommunikation. Diese Aufgabe ist eine “never ending story”, eine laufende Arbeit an der Falsifikation im Sinne Bacons oder des kritischen Rationalismus oder in Worten Freuds: “Wo Es war, soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee.” Sinnvoll ist es, die Trennung von Emotion und Ratio aufzuheben, denn jede noch so “rationale” Argumentation ist geprägt von hormonellen Einflüssen. Das heißt nicht, dass das Denken allein chemisch zu verstehen ist und Entscheidungen nicht möglich wären – aber man muss die eigenen Grenzen kennen, um besser handeln zu können. “Ich weiß, dass ich nicht weiß” zieht sich von Sokrates bis Freud und sollte der Ausgangspunkt sein. Das heißt auch, dass die in Teil 3 angesprochene Komplexität nicht als Bedrohung erfahren wird. Man muss “Komplexität” und die eigenen Grenzen aushalten können, nicht glauben, alles wäre sofort lösbar, weil wir gerne die Sicherheit hätten.
    Gute Erfahrungen machen wir hier mit dem Modell der limbic map, das die Bedürfnisstruktur auf der Basis hormoneller Prägungen untersucht. Das hilft, die emotionalen Prägungen einzuschätzen von scheinbar logischen Aussagen (siehe hier unser Hinweis auf das Modell im Rahmen einer Untersuchung des Ocean-Modells und cambridge analytica beim Streuen von fake news im Wahlkampf oder hier im Zusammenhang mit KI und Metadaten).
  • Medienkompetenz heißt, sich mit den ethischen Fragen durch KI, nach der eigenen Identität und der Kommunikation zu befassen
    “Medienethik” gibt es nicht in dem Sinne, dass es eine Ethik nur für Medien gäbe. Die modernen Medien werfen aber neue Fragen auf wie die
    nach der Privatsphäre (wie z.B. “Darf eine App zur Identifizierung von Corona-Viren auf meine Fitnessdaten zugreifen?”),
    der digitalen Identität (wie z.B. “Wer darf nach meinem Tod über die Accounts auf den sozialen Netzwerken verfügen?”) oder
    der Kommunikationsregeln (wie z.B. “wann dürfen Fake-News gelöscht werden?”). Diese müssen Teil der Auseinandersetzung mit Medien sein. Sonst erkennt man den eigenen Standpunkt nicht.
  • Medienkompetenz heißt, die jeweilige Kommunikationssituation genau zu erfassen und zu gestalten
    Medien sind immer ein Mittel zum Austausch mit anderen. Nur wenn man die eigenen Zielgruppen besser vor Augen hat, kann man auch gezielt kommunizieren. Das jeweilige Medium wird dabei in unterschiedlicher Art und Weise genutzt und wahrgenommen als Träger von Botschaften. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen prägen auch den Umgang mit den Medien. Interkulturelle Kompetenz ist nötig, um den Kontext zu begreifen, aus dem heraus die Adressaten kommunizieren.
    Und es ist wichtig, diese Kommunikation auch zu gestalten und bewusst zu führen. Paolo Giordano weist in diesem Interview zurecht darauf hin, dass die aktive Kommunikation nötig ist, um im Diskurs möglichst viele zu erreichen und ihnen nicht das Gefühl der Hoffnungslosigkeit zu geben und den Weg zu Verschwörungstheorien zu ebnen.
  • Medienkompetenz heißt, die vielen Ansichten zusammenführen zu können – und eine sinnstiftende Entscheidung zu treffen
    Unterschiedliche Positionen zu vermitteln und zusammenzuführen lernt man beim Verfassen einer Bachelor- oder Masterarbeit, lernt man im Projektmanagement, lernt man in einer Schulung im Dialog, lernt man durch interkulturelle Kommunikation. Diese Fähigkeiten sind nötig, will man die Expertenmeinungen richtig bewerten und abwägen, wann man handeln und wann man analysieren muss. Aber es geht darüber hinaus. Man muss sich entscheiden, ob man den Samstagabend mit den Kennzahlen zu Corona-Toten, gewonnenen Zweikämpfen in Bundesligaspielen, Differenzen zwischen den Gehältern von CEOs und Pflegekräften oder noch zu lesenden Seiten in einem Buch widmet. Jedes dieser Narrative hat seine Berechtigung, und doch gilt es, eine Abwägung zu treffen.
    Erinnert sei an Gandhis sieben moderne, soziale Sünden der Menschheit. Sie zeigen, dass die Themen miteinander verwoben sind und Verbesserungen nur im Zusammenspiel möglich sind.
    1.  Politik ohne Prinzipien
    2.  Reichtum ohne Arbeit
    3.  Genuss ohne Gewissen
    4.  Wissen ohne Charakter
    5.  Geschäft ohne Moral
    6.  Wissenschaft ohne Menschlichkeit
    7.  Religion ohne Opfer

In einer Serie von Artikeln versuchen wir uns dem Thema Medienkompetenz zu nähern. Die Corona-Krise schärft unseren Blick. Und sie weist uns darauf hin, was wir in den nächsten Jahren im Blick behalten sollten. Dabei gilt natürlich ein Spruch aus dem Big Data-Management: “What´s right on Monday is wrong on Tuesday”. Jeden Tag verändert sich die Datenlage und führt zu neuen Analysen. Trotzdem müssen wir auch längerfristig planen und dabei agil Annahmen immer wieder überprüfen. Mit unserem neuen Studiengang Digital Media Manager wollen dazu beitragen. Der gemeinsame Diskurs muss aber auf vielen Ebenen geführt werden. Wir freuen uns deshalb über Rückmeldungen, Anregungen und ein Weiterdenken.

Die Themen im Überblick

  1. Warum alle Zahlen falsch und richtig sind
  2. Warum uns KI nicht vorgewarnt hat – oder wo war Google Flu Trends?
  3. Warum Handeln in der Krise Trumpf ist – aber nachdenkliches Agieren in komplexen Systemen lebensnotwendig
  4. Wie man das eigene Narrativ kritisch bewerten kann
  5. Was Medienkompetenz in der Corona-Krise bedeutet

Meine Schwerpunkte sind die strategische Entwicklung von Unternehmen, die Gestaltung der passenden Geschäftsmodelle und die Kundenanalyse - das klingt nach trockenem Brot. Aber es kann sehr kreativ, anregend und erfüllend sein. Mit dem Master "Digital Media Manager" in München lehre ich Medienkompetenz als Zusammenspiel von Geschäftsmodellen, Technologiebewertung und medialer Kommunikation. Aus meiner Erfahrung als Produktmanager, Verlagsleiter und Geschäftsführer beim Carl Hanser Verlag und Haufe-Lexware kenne ich das Mediengeschäft und die Herausforderungen durch die Digitalisierung. Mit Partnern entwickle ich Plattformen wie flipintu oder lectory und digitale Lernmethoden mit dem Goethe-Institut und verschiedenen Universitäten. Man muss etwas selber erfahren, um es auch vermitteln zu können. Nicht dass ich ein Fan von Steve Jobs wäre, aber seine legendäre Rede in Stanford ist klug und das Motto passt: Stay hungry. Stay foolish. Das Leben ist zu kurz, um es mit sinnlosen Meetings und Phrasen zu vergeuden.